Das Licht von Shambala
das Mysterium, als das er den Reisenden von Beginn an erschienen war.
Nicht nur von Hieronymos, auch von Abt Ston-Pa und seinen Mitbrüdern hatten sich Sarah und ihre verbliebenen Gefährten getrennt. Jedoch hatten sich nur zwei der Mönche auf den Rückweg nach Tirthapuri begeben, um den Verwundeten versorgen zu lassen, der Rest war unter der Führung des Abts in die innere khora eingetreten, um die rituelle Umwanderung des Berges zu vollziehen und die Götter für den Kampf, der bevorstand, gnädig zu stimmen. Die Toten waren, der tibetischen Tradition folgend, nicht beigesetzt, sondern ihrer Kleidung entledigt und auf exponierte Felsen gelegt worden, wo sie den Tieren als Nahrung angeboten wurden. Auf diese Weise schloss sich für sie der Kreis des Lebens.
In der Nacht hatte Sarah nur wenig Schlaf gefunden. Die jüngsten Ereignisse ließen sie nicht zur Ruhe kommen, und ohne Unterlass hatte sie darüber gegrübelt, wie es Hieronymos inzwischen ergangen sein mochte. Hatte er Redschet-Pa bereits erreicht? War es ihm gelungen, dort einzudringen und ihren Geliebten zu befreien?
Erst gegen Morgen war sie schließlich eingenickt, schon kurz darauf jedoch von Hingis geweckt worden. Nach einem kurzen, aber kräftigenden Frühstück, das aus kaltem tsampa bestand - ein Feuer zu entfachen wagten sie nicht aus Furcht, sich zu verraten -, brachen sie ihr Nachtlager, das nur aus ein paar ausgebreiteten Decken und Yakfellen bestand, ab und setzten die Reise fort.
Die Sonne war noch nicht so hoch gestiegen, als dass ihre Strahlen schon in die Täler drangen; sie leuchtete jenseits der scharfen Felsgrate und schien den Himmel im Osten in Brand zu setzen. Aber mit jedem Augenblick wurde es heller, und mit der Dunkelheit schwand auch die Kälte der Nacht.
Der schmale Pfad, der zwischen bunt gefleckten Felsen den Berg hinaufführte, war nicht einfach zu begehen; bald galt es, ein Kar von losem Geröll zu überqueren, bald gabelte sich der Weg zwischen mehreren Felsen, sodass sich jeder Fremde rettungslos verirren musste. In solchen Fällen pflegte Sarah die Augen zu schließen und jene Erinnerungen zu bemühen, die so lange in ihr geschlafen hatten, und tatsächlich kam die Antwort dann wie von selbst zu ihr, auch wenn Abramowitsch dieser Methode nicht viel Vertrauen entgegenbrachte.
»Und Sie sind sicher, dass das der richtige Weg ist?«, erkundigte er sich despektierlich. Während Sarah die Führung der kleinen Gruppe übernommen hatte, hielt sich der Russe stets etwas hinter ihr. Das Schlusslicht der kleinen Kolonne bildete Friedrich Hingis, damit er ein Auge auf den Ochrana-Agenten haben konnte.
»In der Tat«, bestätigte Sarah, ohne sich umzudrehen.
»Und an all das erinnern Sie sich wegen dieses Hokuspokus, den die Schlitzaugen mit Ihnen getrieben haben?«
Mit einem Seufzen blieb Sarah stehen und wandte sich nun doch um. »Ein wenig mehr Respekt würde Ihnen gut zu Gesicht stehen, Abramowitsch. Immerhin haben Abt Ston-Pa und seine Mönche uns allen das Leben gerettet.«
»Nicht allen«, brachte der Russe in Erinnerung, und Sarah entging nicht, das für einen kurzen Moment etwas wie Bedauern in seinem schmalen Gesicht zu erkennen war - eine menschliche Regung, weil Abramowitsch um seinen treuen Kameraden Igor trauerte? Einen Lidschlag später jedoch war der Eindruck schon wieder verflogen, und die bärtigen Züge des Agenten erstarrten erneut zur undurchschaubaren Maske.
»Dieser Hokuspokus, wie Sie es nennen«, erklärte Sarah, während sie sich abwandte und den Weg fortsetzte, »ist für die Menschen in diesem Teil der Welt greifbare Realität, und obwohl es mir als Wissenschaftlerin widerstrebt, komme ich nicht umhin zuzugeben, dass es bei mir gewirkt hat. Ich entsinne mich an Dinge, die ich längst vergessen zu haben glaubte, unter anderem auch an diesen Weg.«
»Aha«, machte der Russe unbeeindruckt. »Dann können Sie uns sicher auch sagen, woher dieses verdammte Rauschen rührt.«
Abramowitsch hatte recht.
Schon seit geraumer Zeit begleitete sie ein dumpfes Geräusch, das zunächst nur verhalten und wie aus weiter Ferne zu hören gewesen war; inzwischen jedoch nahm es mit jedem Felsen und jeder Biegung, die sie hinter sich brachten, an Lautstärke zu.
Es war ein Wasserfall, einer jener Katarakte, die vom schmelzenden Schnee gespeist wurden und von den Hängen des Berges in die Tiefe stürzten; blendend weiß hoben sie sich gegen das graubraune Gestein ab, wie Salz, das aus riesigen Fässern
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