Das Licht von Shambala
mit den Armen, um nicht zurückzukippen. Dann hatte sie das Gleichgewicht zurückgewonnen, und mit einem weiteren Schritt nach vorn brachte sie sich in Sicherheit.
Sofort wandte sie sich um und sah, wie sich eine Gestalt aus der weißen Nebelwand löste.
Abramowitsch!
Sarah ertappte sich, dass sie froh war, den Russen zu sehen. Sie streckte ihm die Hand entgegen und half ihm, die Kluft zu überwinden. Auch Hingis brachte die Passage unversehrt hinter sich, wenn auch nur mit einer gehörigen Portion Glück. Seine beschlagene Brille hatte der Gelehrte abgenommen, was allerdings zur Folge hatte, dass er nur wenige Schritt weit sehen konnte.
Jenseits des Felsspalts öffnete sich eine Höhle, deren Decke hoch genug war, dass man aufrecht darin stehen konnte. Sarah und ihre Gefährten entledigten sich der durchnässten Wollmäntel, die sie zusammenrollten und auf die Rucksäcke schnürten. Dann entzündeten sie ihre Fackeln. Die mit Yakfett getränkten Lappen verbreiteten einen strengen Geruch, brannten jedoch trotz der klammen Feuchtigkeit wie Zunder.
»Nun, meine Herren?«, erkundigte sich Sarah mit einem verwegenen Lächeln. »Sind Sie immer noch der Ansicht, ich hätte Sie in eine Sackgasse geführt?«
Die Frage war rhetorischer Natur, und keiner der beiden Männer antwortete. Stattdessen setzten sie ihren Marsch fort, der von nun an unter Tage weiterführte. Der Höhle schloss sich ein Stollen an, der über zahllose Stufen steil bergauf führte, immer weiter empor.
Im Inneren des Berges ...
Bislang waren Sarahs Erinnerungen an den lam-gol eher verschwommen gewesen. Im Zuge des langen Marsches durch die Dunkelheit frischten sie sich jedoch zunehmend auf, so, als wären sie in den umgebenden Fels geritzt wie die Mantren der Tibeter in ihre Gebetssteine.
Nicht nur des Weges entsann sich Sarah inzwischen, sondern auch der Empfindungen, die sie damals gehabt hatte und die von Furcht über Trauer bis hin zu schierer Verzweiflung reichten. Bemerkenswert war, dass sich ihre Gefühle nun, da sie nach so langer Zeit an diesen Ort zurückkehrte, kaum unterschieden. Wieder hatte sie fast alles verloren, geliebte Menschen waren von ihrer Seite gerissen worden. Aber anders als damals war sie kein Kind mehr und nicht mehr völlig wehrlos ...
»Von wem wurde dieser Stollen angelegt?«, fragte Abramowitsch, der hinter ihr ging. Hingis bildete wiederum das Schlusslicht.
»Vermutlich von den Arimaspen«, gab Sarah zur Antwort. »Wie es heißt, waren sie von Beginn an die Diener der Ersten.«
»Aber dieser Fels sieht nicht aus, als wäre er von Hand bearbeitet worden«, meinte der Russe und wischte im Vorbeigehen darüber. »Er ist völlig glatt und gleichmäßig, ebenso wie die Stufen. Ganz offenbar ist hier eine Maschine am Werk gewesen, aber ich kenne keine, die in der Lage wäre, sich durch derart massives Gestein zu schneiden.«
»Womöglich«, äußerte Hingis den Verdacht, den auch Sarah insgeheim hegte, vor dem Ochrana-Agenten jedoch nicht hatte aussprechen wollen, »verfügten die Ersten über Technik, die späteren Generationen nicht mehr zugänglich war. Das Feuer des Re beispielsweise ...«
»... wäre dazu durchaus in der Lage gewesen«, schnitt Sarah dem Schweizer das Wort ab. Sie wollte Abramowitschs ohnehin schon geweckte Begehrlichkeit nicht noch mehr anstacheln.
»Sie trauen mir noch immer nicht«, stellte der Russe grinsend fest. »Dabei hatte ich gedacht, dass Sie inzwischen ...« Er stutzte, als er mit dem Fuß gegen etwas stieß. »Verdammt noch mal, was ...?«
Er blieb stehen und hielt die Fackel so, dass sie den Boden beleuchtete. Die Stufen waren zuletzt immer flacher geworden und schließlich in einen waagerecht verlaufenden Stollen übergegangen, der übersät war von ebenso bleichen wie bizarren Gebilden.
»Knochen«, stellte Sarah fest.
Tatsächlich lagen überall auf dem glatten Gestein Bruchstücke menschlicher Gebeine verstreut. Manche waren derart klein, dass sie auch als Kiesel hätten durchgehen können, andere geradezu pulverisiert worden. Einigen jedoch war ihr Ursprung noch deutlich anzumerken. Ein halbierter Schädel lag auf dem Boden und grinste den Eindringlingen unheimlich entgegen.
»Was hat das zu bedeuten?« Hingis hatte sich gebückt, um den Fund näher in Augenschein zu nehmen. Mit vor Aufregung bebender Hand rückte er seine Brille zurecht.
»Das weiß ich nicht«, entgegnete Sarah, die sich wieder aufgerichtet hatte und wachsam die Wände untersuchte, »aber aus
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