Das Licht von Shambala
pflichtete Hingis ihm zu Sarahs Missfallen bei. Auch Abt Ston-Pa nickte in stiller Zustimmung.
»Ist das euer Ernst?«, fragte Sarah, die nicht fassen konnte, dass sich ausgerechnet der Spion des Zaren als Retter der Menschheit aufspielte. »Merkt ihr denn nicht, worum es ihm geht? Dass er nur nach Shambala will, um sich des dritten Geheimnisses zu bemächtigen?«
»Selbst wenn, ändert es nichts an unserer Mission«, gab Hingis zu bedenken. »Und du hast selbst gesagt, dass seine Rolle in diesem Spiel noch nicht zu Ende gespielt ist, nicht wahr?«
Sarah atmete tief durch. Mit den eigenen Argumenten bekämpft zu werden tat weh. Aber die Tatsache, dass Freund und Gegner einer Meinung waren, machte ihr auch klar, dass sie überstimmt war. Abramowitsch hatte recht. Im Grunde gab es nichts mehr zu entscheiden. Und gerade das war es, was Sarah so unbändig wütend machte.
Ihr Finger zitterte am Abzug, aber sie besann sich und ließ die Waffe sinken. Es war also beschlossen. Sie würde auch noch das letzte Opfer bringen, das das Schicksal ihr abverlangte, auch wenn sich alles in ihr dagegen sträubte ...
Oder gab es noch einen anderen Ausweg?
»Also schön«, sagte sie leise, »ich werde gehen - und du auch, Hieronymos.«
»Mylady?« Der Blick des einen Auges war unsicher.
»Vor langer Zeit hast du geschworen, mich zu beschützen, nicht wahr?«, fragte sie.
»Das ist richtig.«
»Dann entbinde ich dich jetzt von diesem Schwur und übertrage ihn stattdessen auf Kamal. Geh nach Redschet-Pa und versuche, ihn zu befreien, während wir anderen unseren Weg fortsetzen.«
»Das kommt nicht in Frage!«, wetterte Abramowitsch. »Wir brauchen seine Schwerthand, wenn wir diesen Kampf für uns entscheiden wollen!«
»Er oder ich«, stellte Sarah zur Auswahl. »Das ist meine Bedingung.«
»Mylady«, wandte Hieronymos ein, »ich weiß nicht, ob ...«
»Ob du der Richtige für diese Aufgabe bist?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin mir ebenfalls nicht sicher, denn du hast mich als einer der Ersten darauf hingewiesen, dass ich mich würde entscheiden müssen, und du hast mir manche Dinge verheimlicht.«
»Mylady, ich ...«
»Aber«, fuhr Sarah fort, ehe er sich verteidigen konnte, »du bist mir in den vergangenen Wochen auch ein treuer Freund gewesen und hast dein Leben eingesetzt, um das meine zu erhalten. Deshalb vertraue ich dir nun das Wertvollste an, das mir auf Erden geblieben ist, Hieronymos - das Leben meines Geliebten.«
»Gefühlsduseliger Unfug!«, rief Abramowitsch dazwischen. »Warum marschieren wir nicht ...«
»Halten Sie den Mund!«, beschied ihm Hingis so energisch, dass der Russe tatsächlich verstummte. Aller Augen richteten sich auf Hieronymos, der noch immer zögerte.
»Es ist nicht gut, sich dem Schicksal zu widersetzen, Lady Kincaid«, sagte der Einäugige.
»Das mag richtig sein«, räumte Sarah ein, »aber woher willst du wissen, was unser Schicksal ist? Vielleicht hat die Vorsehung diese Entwicklung in Gang gesetzt, und vielleicht wollte sie, dass ich so und nicht anders entscheide?«
Das eine Auge starrte sie an. Verletztheit sprach aus seinem Blick, womöglich auch ein wenig Enttäuschung. Aber obwohl ihm anzusehen war, dass er Sarahs Entscheidung nicht billigte, nickte der Zyklop schließlich.
»Danke, Hieronymos«, flüsterte Sarah. »Bitte verzeih mir. Ich kann nicht anders.«
Der Einäugige zuckte mit den Schultern. Dann säuberte er seine noch immer blutige Klinge am Fellumhang des getöteten Ordensschergen, steckte sie in den Gürtel und wandte sich zum Gehen.
»Vielleicht«, rief Sarah ihm hinterher, »ist es für uns alle an der Zeit, dem Schicksal zu vertrauen.«
Der Zyklop blieb stehen und wandte sich noch einmal um. Der Blick, mit dem er Sarah maß, war unmöglich zu deuten. Und schließlich erwiderte er etwas, das weder Sarah noch Abt Ston-Pa und seine Mitbrüder je vergessen würden.
»Dan-po gyalo«, sagte er in Anlehnung an den traditionellen tibetischen Glückwunsch - Mögen die Ersten siegen!
Dann verschwand er zwischen den Felsen.
8.
M OUNT K AILASH
W ESTTIBET
22. J UNI 1885
Es war früh am Morgen. Bis spät in die Nacht hinein waren Sarah und ihre Gefährten durch das Felsenlabyrinth marschiert, das sich in immer kühneren und steileren Formationen an der Bergflanke emporwand. Nur hin und wieder hatte sich das graue Gestein geöffnet und einen kurzen Blick auf den Gipfel freigegeben, und das auch nur, wenn die Wolken es zuließen.
Der Kailash blieb
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