Das Licht von Shambala
den Arimaspen erfahren, von den Greifen und den Hyperboreern - und hat sich schließlich auf den Weg gemacht, um sie zu finden.«
»Möglich wäre es«, gab Hingis zu und rückte seine Brille zurecht, die ihm bis auf die Nasenspitze heruntergerutscht war. »Aber wie hilft uns das weiter? Selbst wenn wir davon ausgehen, dass das Gedicht authentisch ist und tatsächlich von Aristeas stammt - es enthält weder geographische Angaben noch Beschreibungen, die Rückschlüsse auf den Aufenthaltsort der Arimaspen zuließen.«
»Das nicht«, gab Sarah zu, »aber wenn meine Vermutungen zutreffen und Aristeas seine Inspiration tatsächlich von Seeleuten bezog, dann schränkt dies das in Frage kommende Gebiet ein - nämlich auf die nordöstlichen Küstenregionen des Schwarzen Meeres, was sich wiederum mit der Sage vom Vogel Roc decken würde.«
»Wie beruhigend«, ächzte der Schweizer, »dann brauchen wir ja nur eine Küstenlinie von geschätzten tausend Meilen abzusuchen, vom Hinterland ganz zu schweigen!«
»Nicht ganz«, widersprach Sarah, »denn vergessen wir nicht, dass Herodot auch die Skythen erwähnt. Wenn wir unsere Suche also auf jene Regionen rund um das Schwarze Meer konzentrieren, die einst von Skythen bevölkert waren, dann dürfte dies das in Frage kommende Gebiet noch einmal beträchtlich verkleinern.«
»Zugegeben, aber was heißt das schon?«, knurrte Hingis und griff nach einem Atlanten, den er kurzerhand aufschlug. »Das angestammte Gebiet der Skythen erstreckte sich nach allem, was wir wissen, zwischen der ungarischen Tiefebene und dem Fluss Jenissei in Sibirien - mit anderen Worten über die gesamte Nordküste des Schwarzen Meeres. Selbst wenn wir nur den östlichen Teil in Betracht ziehen - etwa von der Krim bis zu den Ausläufern des Kaukasus -, sprechen wir von einem Gebiet, das Hunderte von Quadratmeilen umfasst. Ganz abgesehen davon, dass es sich zum guten Teil um russisches Territorium handelt und du als Britin dort nicht sehr wohlgelitten sein dürftest.«
»Dennoch«, beharrte Sarah, »bin ich sicher, dass dies die richtige Spur ist.«
»Warum?«, fragte der Schweizer dagegen. »Weil dein Gefühl es dir sagt?«
»Nein«, widersprach sie kopfschüttelnd, »weil die Quellen mir dazu raten. Die Hinweise mögen vielleicht spärlich sein, und die Folgerungen, die wir daraus ableiten, auf wackeligen Beinen stehen - aber sie sind legitim, und ich bin bereit, mich auf das Wagnis einzulassen. Auch Schliemann wurde einst vorgeworfen, er würde Hirngespinsten nachjagen. Zu einer historischen Tatsache wurde Troja erst in dem Augenblick, als er die Stadtmauern aus dem Sand grub. Und genau das werde auch ich tun.«
»Im Sand graben?«
»Die Tatsachen ans Licht bringen«, verbesserte sie. »Die Arimaspen und der Berg Meru bilden die einzige Verbindung, die mir zu Kamal geblieben ist, also werde ich alles daransetzen, sie zu finden. Weder kann noch will ich dich zwingen, mich dabei zu begleiten, aber ich werde diesen Weg gehen, ob es dir gefällt oder nicht.«
Friedrich Hingis antwortete nicht sofort. »Gleich, ob Gardiner Kincaid dein Vater war oder nicht«, sagte er endlich, »sein unbeugsames Wesen hat er dir auf jeden Fall vermacht.«
»Verzeih.«
»Da gibt es nichts zu verzeihen.« Er schüttelte den Kopf.
»Also trennen sich unsere Wege?«, erkundigte sie sich und schaute ihn unverwandt an. Ihre erblassten Züge mit den leichten Sommersprossen verrieten keine Regung, sie wollte ihm die Entscheidung nicht unnötig erschweren.
»Wie denn?«, fragte der Schweizer entrüstet dagegen. »Du willst mich loswerden? Ist das deine Art, einem Kollegen zu danken, der so viel mit dir durchgemacht hat? Willst du die ganze Ehre und den wissenschaftlichen Ruhm für dich allein?«
»Du ... du würdest mich begleiten?«
»Bis ans Ende der Welt, wenn es nötig sein sollte. Wir haben diese Sache gemeinsam begonnen, also bringen wir sie mit Gottes Hilfe auch gemeinsam zu Ende.«
»A-aber sagtest du nicht selbst, meine Folgerungen wären vorschnell und unüberlegt?«
»Deine Thesen sind gewagt, ohne Frage, aber sie scheinen mir zumindest nicht unbegründet«, erwiderte der Schweizer. »Ich wollte nur verhindern, dass deine Sorge um Kamal dich dazu treibt, Entscheidungen zu treffen, die jeder rationalen Grundlage entbehren. Deshalb habe ich mir erlaubt, dich an die Tugenden unserer Wissenschaft zu erinnern.«
»Wofür ich dir dankbar bin«, entgegnete Sarah. »Noch vor ein paar Jahren allerdings hätte ich mich
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