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Das Licht von Shambala

Das Licht von Shambala

Titel: Das Licht von Shambala Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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die ihren Blick nicht von den in deutscher Fraktur gedruckten Zeilen wenden konnte. »Es ist nur ... Was ich hier lese, ist so unglaublich, dass ich ...« Sie schüttelte den Kopf, dann blickte sie auf, Tränen inneren Aufruhrs in den Augen. »Herodot schreibt von einer Begebenheit, die sich auf Prokonnesos zugetragen haben soll«, berichtete sie mit bebender Stimme. »Wie es heißt, hätte Aristeas die Werkstatt eines Walkers betreten und sei dort verstorben; als man den Leichnam jedoch abholen wollte, um ihn beizusetzen, da war er spurlos verschwunden.«
    »Und?«, fragte Hingis, der der morbiden Anekdote nichts Aufregendes abgewinnen konnte.
    »Sieben Jahre später«, erwiderte Sarah leise, »tauchte Aristeas angeblich wieder auf der Insel auf, springlebendig und mit unzähligen Geschichten im Gepäck, die er auf einer abenteuerlichen Suche nach dem sagenumwobenen Volk der Hyperboreer erlebt haben wollte. Derart inspiriert, schrieb er seine Ode über die Einäugigen, die er ›Arimaspea‹ nannte. Danach verschwand er wieder.«
    »Unfassbar«, entfuhr es nun auch dem Schweizer - angesichts seiner sonst so zurückhaltenden und beherrschten Art ein echter Gefühlsausbruch. »Vermuten wir dasselbe?«
    »Ich denke schon«, stimmte Sarah zu. »Wenn sich die Dinge auf Prokonnesos tatsächlich so zugetragen haben, wie Herodot sie berichtet, könnte es durchaus sein, dass Aristeas das Wasser des Lebens verabreicht wurde. Seine Zeitgenossen haben ihn daraufhin für tot gehalten, aber er war es nicht; stattdessen bekam er das aqua vitae erneut verabreicht und begab sich auf seine Reise nach Osten.«
    »Eine ziemlich kühne Vermutung«, meinte Hingis, »die wir zudem nicht überprüfen können, weil das Werk des Aristeas verschollen ist. Und selbst wenn es nicht so wäre, würde sein Text einer wissenschaftlichen Überprüfung wohl kaum standhalten, denn wie Herodot so schön sagt, ist Aristeas ›von Apollon getrieben‹ gewesen, als er zu seiner Reise aufbrach - mit anderen Worten, er war wahnsinnig.«
    »Oder vom Fieberwahn umfangen«, lieferte Sarah eine andere Deutung.
    »Davon bin ich nicht überzeugt.«
    »Warum nicht?«
    »Weil du wieder einmal nur das siehst, was du sehen willst«, erwiderte der Schweizer mit brutaler Offenheit.
    »Wieder einmal?«, fragte Sarah.
    Hingis seufzte. Ihm war anzusehen, dass er nicht stolz auf seine Worte war, aber er nahm sie auch nicht zurück. »Du musst dich vorsehen, Sarah«, sagte er leiser. »Du bist auf dem besten Weg, dich in etwas zu verrennen - genau wie in Griechenland.«
    »Durchaus nicht«, widersprach Sarah heftig, wobei sie alle Mühe hatte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie der Vorwurf des Freundes traf. »Ich sehe nur das, was offenkundig vor mir liegt.«
    »Tatsächlich?« Friedrich Hingis' Brillengläser beschlugen, wie immer, wenn er sich über etwas ereiferte. »Was haben wir denn bislang außer einigen Andeutungen und Mutmaßungen? Nichts, Sarah! Nichts, das einer objektiven Betrachtung standhalten würde!«
    »Nein?« Sie deutete auf die Bücher, die aufgeschlagen vor ihnen lagen. »Und was ist mit den Hinweisen, auf die wir gestoßen sind?«
    »Bei allem Respekt, werte Freundin - die Herren, in deren Werken wir gelesen haben, haben mit großer Wahrscheinlichkeit alle voneinander abgeschrieben. Anders als in unserer Zeit galt es in der Antike als äußerst schicklich und als Zeichen von Belesenheit, sich die geistige Arbeit anderer anzueignen.«
    »Zugegeben«, räumte Sarah ein, »aber es muss einen Grund dafür geben, dass die Kunde von den Arimaspen über Jahrhunderte hinweg weitergegeben wurde. Eine tiefere Wahrheit, die ...«
    »Als Archäologen geht es uns nicht um die Wahrheit, Sarah, sondern um das, was sich wissenschaftlich beweisen lässt«, brachte der Schweizer in Erinnerung, was jedem Studenten im ersten Semester beigebracht wurde. »Angesichts des herausragenden Lehrers, den du hattest, solltest du das wissen.«
    »Und angesichts der Erfahrungen, die wir gemacht haben, solltest du wissen, dass wissenschaftliche Fakten nicht alles sind«, konterte Sarah aufgebracht. »Warum wehrst du dich so dagegen?«
    »Weil, meine Teure«, entgegnete Hingis, »die Wissenschaft alles ist, was mir noch geblieben ist. Ich habe meine Hand eingebüßt und einen guten Teil meiner Reputation, und wenn ich es recht bedenke, ist mir auch von meinen Überzeugungen recht wenig geblieben. Meinen Verstand jedoch habe ich mir bewahrt, und ich werde nicht ausgerechnet

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