Das Licht von Shambala
für einen solchen Ratschlag wohl mit einer schallenden Ohrfeige bei dir revanchiert.«
»Meine Liebe«, konterte der Schweizer lächelnd, »noch vor ein paar Jahren hätte ich dir erst gar keinen Ratschlag erteilt ...«
6.
T AGEBUCH S ARAH K INCAID
Endlich eine neue Spur!
Nach einer nicht enden wollenden Zeit, in denen mir nichts anderes zu tun blieb, als abzuwarten und die Wunden zu lecken, die unsere Feinde mir zugefügt hatten, habe ich nun endlich wieder das Gefühl, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Und selbst wenn es eine Selbsttäuschung sein mag und die Hinweise, die ich gefunden zu haben glaube, sich allesamt als falsch herausstellen sollten, ziehe ich diesen Zustand dem Nichtstun allemal vor.
Woher ich diese Stärke nehme, vermag ich nicht zu bestimmen. Anders als früher ist es nicht nur Forscherdrang, der mich antreibt. Mein getreuer Friedrich hat recht, wenn er mich ermahnt, die archäologischen Tugenden nicht aus den Augen zu verlieren. Aber kann die Wissenschaft, die reine Vernunft, mich überhaupt ans Ziel dieser Suche führen? Die Archäologie scheint hier an ihre Grenzen zu stoßen, und ich bin froh, die Weisheit von el-Hakim hinter mir zu wissen, der mir trotz aller Zweifel und Ängste das Gefühl gibt, nicht verloren zu sein.
Seit wir sein Haus betreten haben, verspüre ich zum ersten Mal wieder ein wenig Zuversicht, und ich bezweifle nicht, dass dies der Gegenwart des alten Freundes zu verdanken ist. Wann immer ich in seiner Kammer sitze und seiner beruhigenden Stimme lausche, ist es fast wie früher, wenn der junge Kesh und ich in der obersten Stube der alten Sternwarte am Djebel Mokattam hockten und in heißen Wüstennächten den Geschichten zuhörten, die el-Hakim besser als jeder meddah zu erzählen wusste und in denen sich seine Weisheit spiegelte wie das Mondlicht in den Wassern des Nils.
Während Friedrich mit Ufuks Hilfe versucht, eine Schiffspassage über das Schwarze Meer zu buchen und bei den zuständigen Behörden die dafür erforderlichen Genehmigungen zu erwirken, setze ich die Studien fort. Wohl um zu verhindern, dass das seltsame Frauenzimmer seinen Fuß noch öfter über ihre Schwelle setzt, haben die Kuratoren der Staatsbibliothek mir großzügig gestattet, einzelne Bände auszuleihen, sodass ich meine Arbeit nun in Ammons Haus fortsetzen kann. Und während ich Quellen und sekundäre Literatur durchforste, hege ich nicht nur die Hoffnung, noch mehr Hinweise auf die Arimaspen und ihr geheimnisvolles Wirken zu finden, sondern auch, dass die Weisheit und das Wissen meines alten Freundes auch mich erleuchten mögen ...
B ASARVIERTEL , K ONSTANTINOPEL
21. M ÄRZ 1885
»Nun, mein Kind? Kommen deine Studien gut voran?«
Sarah blickte von dem Buch auf, in dem sie gelesen hatte. Umgeben von seinen Reichtümern, seinen Schriftrollen, Talismanen und den kupfernen Modellen von Sternen und Planeten, die von der niederen Decke hingen, saß ihr der alte Ammon gegenüber. Seine Augen waren blicklos wie immer, dennoch hatte Sarah das Gefühl, dass er sie direkt anschaute.
»Ich denke ja, Meister«, erwiderte sie, dankbar für die Unterbrechung. »Ich lese gerade in einem Buch, das ein deutscher Wissenschaftler namens Karl Johann Heinrich über die Skythen verfasst hat.«
»Dein Vater hat gut daran getan, dich verschiedene Zungen zu lehren«, meinte der Weise überzeugt.
»Ja«, stimmte Sarah zu und verspürte den jähen Drang, el-Hakim nach ihrer Herkunft zu befragen. War sie Gardiner Kincaids Tochter, oder war sie es nicht? Hatte Mortimer Laydon am Ende die Wahrheit gesagt?
Schaudernd dachte Sarah an die letzte Begegnung mit Laydon in der geschlossenen Anstalt von Bedlam zurück. Sollte dieser dem Wahnsinn verfallene, durch und durch von Bosheit durchdrungene Mensch tatsächlich ihr wirklicher Vater sein? Anfangs hatte Sarah den Gedanken weit von sich gewiesen, doch inzwischen hatte sie in ihr Innerstes geblickt und erkannt, dass dort Abgründe lauerten, von denen sie nicht das Geringste geahnt hatte - Laydons dunkles Erbe?
»Was schreibt der Deutsche?«, wollte el-Hakim wissen und riss sie damit aus ihren Gedanken. Sie brauchte einen Moment, um sich in den Notizen, die sie sich gemacht hatte, zurechtzufinden.
»Nun«, erwiderte sie dann, »Heinrich vermutet, dass die Arimaspen womöglich nicht nur Nachbarn der Skythen waren, wie Herodot schreibt, sondern dass es sich bei ihnen selbst um einen Skythenstamm gehandelt haben könnte ...«
»... was
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