Das Licht von Shambala
Wahl?« Sie hatte lauter gesprochen, als es der Respekt gegenüber dem Alten gebot, deshalb senkte sie schuldbewusst den Blick. »Verzeiht, Meister. Es ist nur - ich habe das alles schon einmal erlebt. Genau wie damals in Alexandrien fürchte ich schon wieder, einen geliebten Menschen zu verlieren, und damals wie heute muss ich erfahren, dass Gardiner sehr viel mehr wusste, als er mir anvertraut hat. Und das macht mir Angst.«
»Das verstehe ich.« Ammon nickte. »Was hätte Gardiner dir wohl in dieser Situation geraten?«
»Vermutlich, dass ich die Suche abbrechen soll.«
»Vermutlich«, bestätigte der Alte.
»Aber das kann ich nicht«, erwiderte Sarah mit bebender Stimme. Ihre Fäuste waren geballt, ihre Brust hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen. Wut pulste durch ihre Adern, die nicht nur der Bruderschaft galt, sondern auch Gardiner Kincaid. Wenn es seine Absicht gewesen war, sie zu schützen, warum hatte er ihr dann nicht sein Wissen offenbart und sie gewarnt? Stattdessen hatte er sie mit Halbwahrheiten abgespeist und sie in ein Gespinst aus Lügen gehüllt, das sie längst nicht mehr nur an ihm, sondern auch an sich selbst zweifeln ließ.
Aber wie die Hinterlassenschaften der Geschichte, die Gegenstand der Archäologie waren und die der Boden stets nur auf Zeit verschluckte, um sie irgendwann wieder freizugeben, ließ sich auch die Wahrheit nicht auf Dauer verbergen, und Sarah empfand eine gewisse Genugtuung darüber, dass es letzten Endes kein anderer als Gardiner Kincaid gewesen war, der ihr den entscheidenden Hinweis für die Fortsetzung ihrer Suche geliefert hatte.
»Unser Ziel ist die Krim«, verkündete sie ihren endgültigen Entschluss, »ich werde Hingis umgehend darüber informieren.«
»Mein Kind«, sagte Ammon leise.
»Was ist?«, fragte sie, unangemessen barsch.
»Ich fühle Zorn in dir«, sagte der Alte leise. Es war kein Vorwurf, nur eine Feststellung.
»Ich weiß.«
»Was ist nur geschehen? Was ist dir widerfahren, dass du selbst unter deinesgleichen Gegner vermutest?«
»Ich sagte es Euch schon, Meister«, flüsterte Sarah, während sie sich erhob und zum Gehen wandte. »Ich bin aufgewacht.«
Sie verbeugte sich respektvoll, wie sie es immer tat, wenn sie sich von el-Hakim verabschiedete. Dann verließ sie seine Kammer.
Dabei wischte sie hastig die Tränen aus ihren Augen.
7.
T AGEBUCH S ARAH K INCAID
Ich gestehe es mir nicht gerne ein, aber die Unterredung mit el-Hakim hat Spuren hinterlassen. Waren meine Zweifel bislang vage und unbestimmt, bin ich mir ihrer nun bewusst geworden und fühle mich verlorener denn je. Ohne zu wissen, wer ich bin und wohin ich gehe, fühle ich mich wie ein Blatt im Wind, und die Furcht, dass der Sturm, von dem der Weise gesprochen hat, mich erfassen und hin fortreißen könnte, ehe ich meinen geliebten Kamal gefunden habe, lässt mich nicht los.
So dankbar ich für die Hinweise bin, die ich bekommen habe und die alle in dieselbe Richtung zu deuten scheinen, so sehr bin ich erschrocken über die Zwangsläufigkeit, mit der sie sich ergeben. Kamal hat nie einen Zweifel daran gehegt, dass unser Leben von einem höheren Schicksal bestimmt wird, und ich habe Erfahrungen gemacht, die dies bestätigen. Aber bin ich bereit, diese Erkenntnis in aller Konsequenz zu akzeptieren? Würde das Eingeständnis, dass die Geschichte bereits geschrieben ist, nicht in letzter Konsequenz bedeuten, dass wir alle nur Statisten sind, Marionetten in einem kosmischen Spiel? Die Wissenschaftlerin in mir wehrt sich gegen diese Einsicht, zumal sie besagt, dass ich keine Möglichkeit habe, Kamal aus eigenem Antrieb zu befreien und ich dem fatum schutzlos ausgeliefert bin. Und zu diesem Fatalismus bin ich noch nicht bereit ...
Friedrich Hingis habe ich über die jüngsten Entwicklungen in Kenntnis gesetzt; er teilt meine Ansicht, dass eine Spurensuche auf der Krim die besten Erfolgsaussichten bietet - von einem Schicksal, das unser aller Wege bestimmt, will er als Verfechter der ratio nichts wissen, und ich beneide ihn fast um seine Überzeugung.
Während ich mich mit Ammons Hilfe bemühe, noch mehr über jenen geheimnisvollen Skythentempel herauszufinden, auf den Gardiner Kincaid in jener Herbstnacht des Jahres 1854 stieß, ist Friedrich damit befasst, unsere Expedition zu organisieren und eine Schiffspassage nach Sewastopol zu buchen. Eine Aufgabe, die in Anbetracht der politischen Lage alles andere als einfach ist ...
P ERA , I STANBUL
24. M ÄRZ
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