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Das Licht von Shambala

Das Licht von Shambala

Titel: Das Licht von Shambala Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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1885
     
    »Mr. Abramowitsch?«
    Als Friedrich Hingis den geräumigen Salon im vierten Stock des Hotels »Ambassador«, betrat, schlug ihm der strenge Geruch von frischem Bohnerwachs entgegen, gepaart mit einer Note Pfefferminz.
    Wände und Decke waren holzgetäfelt und mit orientalisch anmutenden Intarsien und Arabesken versehen; die Möbel waren europäisch und stammten vermutlich aus Paris. Vor einem vergitterten Kamin, in dem ein kleines Feuer knisterte, das zusammen mit einer Gaslampe die einzige Beleuchtung bildete, stand ein breiter, mit Messingbeschlägen versehener Schreibtisch, dahinter ein samtbezogener Ohrensessel. In dem Sessel saß ein Mann, dessen schlanker Wuchs und geradezu falkenhafte Gesichtszüge etwas Respektgebietendes hatten; sein schwarzes Haar war an den Schläfen grau, der Vollbart sorgfältig gestutzt; das schmale kaukasische Augenpaar musterte den Besucher mit einer Offenheit, die in krassem Widerspruch zur restlichen Erscheinung zu stehen schien.
    »Herr Abramowitsch«, verbesserte er auf Deutsch, mit unüberhörbar slawischem Akzent. »Sie sind Schweizer, wie mir gesagt wurde.«
    »Das bin ich.«
    »Dann wollen wir uns einer zivilisierten Sprache bedienen und nicht der eines Empires, dessen anmaßende Aspirationen auf die Weltherrschaft den Frieden auf diesem Globus bedrohen.«
    »Wie Sie wünschen«, meinte Hingis und verbeugte sich. »Dr. Friedrich Hingis von der Universität Genf.«
    »Viktor Abramowitsch«, stellte sich der Russe im Gegenzug vor und erhob sich, um hinter dem Schreibtisch hervorzukommen. Bekleidet war er mit einem schlichten schwarzen Rock, seine schlanke Gestalt spiegelte sich im frisch gewachsten Parkett. »Es freut mich wirklich sehr, dass wir uns kennen lernen.«
    »Die Freude ist ganz meinerseits«, versicherte Hingis beflissen, als sie sich die Hände schüttelten. »Offen gestanden, hätte ich nie zu hoffen gewagt, dass ein vielbeschäftigter Mann wie Sie sich Zeit nehmen würde, mich zu empfangen.«
    »Aber werter Dr. Hingis, ich bitte Sie!«, rief Abramowitsch, und ein joviales Lächeln teilte seine schmalen Gesichtszüge. »Wir Europäer - wenigstens der zivilisierte Teil von uns - müssen in diesem Teil der Welt doch zusammenhalten. Als ich von Ihren Schwierigkeiten hörte, beschloss ich spontan, Ihnen zu helfen. Wenn auch nicht ganz uneigennützig.«
    »Wie darf ich das verstehen?«
    »Mein guter Doktor, bitte halten Sie mich nicht für einen geltungssüchtigen Zeitgenossen. Aber wenn sich die Gelegenheit bietet, einem so bekannten und gelehrten Haupt wie Ihnen zu begegnen, so greift man natürlich zu.«
    »Sie schmeicheln mir«, sagte Hingis und nestelte verlegen an seiner Brille, was nicht verhindern konnte, dass er rot wurde.
    »Keineswegs! Ich habe Ihre Abhandlung gelesen über - wer war es doch gleich? Die Sumerer?«
    »Die Hethiter«, verbesserte Hingis mit einer wegwerfenden Handbewegung, als wäre der Unterschied nur höchst nebensächlicher Natur. »Ich habe meine Dissertation über die Regierungszeit von König Hattusili verfasst.«
    »Richtig.« Abramowitsch nickte, als würde er sich erinnern. »Sie müssen wissen, dass ich mich ebenfalls mit Geschichtsstudien befasse, wenn auch nur nebenbei. Meine Geschäfte lassen mir leider nicht so viel Zeit dafür, wie ich gerne möchte.«
    »Ich verstehe.«
    »Aber setzen Sie sich doch, lieber Doktor«, sagte Abramowitsch und deutete auf die ledernen Sessel, die sich um einen niederen osmanischen Holztisch gruppierten, auf dem ein kunstvoll gearbeiteter Aschenbecher aus Vulkangestein stand. »Im Sitzen lässt es sich angenehmer verhandeln als im Stehen. Wie gefällt Ihnen übrigens mein Hotel?«
    »Ihr Hotel?«, erkundigte sich Hingis beeindruckt.
    »Nun ja, wenigstens die Hälfte davon befindet sich in meinem Besitz«, schränkte der Russe ein. »Derzeit ist es das beste Hotel am Platz, was mich mit großem Stolz erfüllt, aber das wird nicht lange so bleiben.«
    »Warum nicht?«, fragte der Schweizer, während er sich in einen der schweren Ledersessel sinken ließ. Abramowitsch nahm gegenüber Platz.
    »Weil, mein guter Doktor, mit großem Eifer daran gearbeitet wird, den Orient-Express bis Caringrad 15 verkehren zu lassen. Und wenn es so weit ist, wird diese Stadt - und ganz besonders dieser Teil davon - erst richtig zur Blüte erwachen. Schon jetzt befinden sich mehrere neue Hotels in Planung. Sogar einen neuen Bahnhof will man bauen, wussten Sie das?«
    »Nein«, musste Hingis zugeben, »das wusste

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