Das Licht von Shambala
fernhalten kann.
S EWASTOPOL , K RIM
13. A PRIL 1885
»Du schreibst, mein Kind?«
Ammons Frage riss Sarah aus ihren Gedanken. Sie blickte von dem kleinen, in gewachstes Leinen gebundenen Büchlein auf, und brauchte einen Moment, um ins Hier und Jetzt zurückzufinden.
»Ja, Meister«, bestätigte sie dann. Obwohl el-Hakim stets behauptete, dass seine übrigen Sinne, wie er es ausdrückte, »den Weg seiner Augen« gehen würden, schien sein Gehör noch ganz ausgezeichnete Dienste zu leisten. Er musste das Geräusch der Feder wahrgenommen haben, die leise über das Papier kratzte - und das, obwohl er am anderen Ende des langen Tisches im Aufenthaltsraum des Gasthauses saß. »Ich pflege die Ereignisse des zurückliegenden Tages zusammenzufassen und ihnen meine eigenen Gedanken hinzuzufügen.«
»Das hast du auch früher schon getan«, sagte der Alte.
»Das stimmt.«
Der Weise lächelte. Vor ihm ausgebreitet lagen die Scherben einer Tontafel, in die Zeichen einer Sarah unbekannten Schrift geritzt waren. Indem seine dürren Finger die Rillen befühlten, versuchte er, die verschiedenen Teile wieder zusammenzufügen, was ihm mit erstaunlichem Geschick gelang. Später würde Ufuk sie mit Knochenleim verbinden. »Das unterscheidet die Jugend vom Alter«, sagte er. »Die Jugend glaubt, der Welt ihre eigenen Gedanken hinzufügen zu können. Das Alter hingegen bescheidet sich damit, die Scherben der Vergangenheit aufzulesen. Denn es gibt kaum einen Gedanken, der noch nicht gedacht, kaum ein Wort, das noch nicht ausgesprochen wurde in der langen Geschichte der Menschheit.«
»Verzeiht, wenn ich widerspreche Meister«, erwiderte Sarah. »Ich schreibe meine Gedanken nicht nieder, um sie der Nachwelt zu erhalten, sondern um sie ein wenig zu ordnen. Ich glaube nicht, dass jemand diese Aufzeichnungen jemals lesen oder sich auch nur dafür interessieren wird.«
»Das weißt du nicht, mein Kind«, meinte der Alte mit einer Spur von Wehmut. »Die Entscheidung darüber wird von anderen getroffen, nicht von ... Sarah!«
Die Warnung des Weisen kam noch einen Sekundenbruchteil eher, als sie den Schatten in der Tür bemerkte. Der Griff zu der Waffe, die sie neben sich auf dem Tisch liegen hatte, erfolgte mit einer Routine, die sie fast selbst erschreckte. Der breitschultrige Mann, der dem Schatten folgte und auf die Schwelle trat, blickte in die Mündung der geladenen Waffe.
»Stoi! 19 «, rief Sarah - eines der wenigen Worte, die sie auf Russisch beherrschte -, worauf der Fremde wie angewurzelt stehenblieb und die Hände über den Kopf riss. Bekleidet war er mit dunkelgrauen Hosen, die in schmutzigen Stiefeln steckten, und einem weiten Hemd, wie Bauern es trugen, das von einem Strick um die Hüften zusammengehalten wurde. Auf seinem Kopf ruhte eine unförmige Mütze aus Fell.
»Njet, nicht schießen!«, rief er in akzentbeladenem Englisch. »Briederchen Yuri tut Ihnen nichts!«
»Warum schleicht Briederchen Yuri dann wie ein Dieb die Treppe herauf, statt sich beim Wirt anzumelden?«, fragte Sarah misstrauisch.
Ein entwaffnendes Lächeln erschien auf den von Wind und Wodka geröteten Zügen, deren Alter unmöglich zu schätzen war. Borstiges blondes Haar schaute unter der Mütze hervor, ein ebenso beschaffener Bart wucherte auf der Oberlippe. Aus den schmalen, grauen Augen des Mannes blitzte der Schalk, die wettergegerbten Gesichtszüge mit der Knollennase darin wirkten jedoch angesichts der Waffe, die auf ihn gerichtet war, angespannt. »Weil ich Freund«, erklärte er ein wenig unbeholfen. »Führer, den gemietet ... soll mich melden.«
»Wer hat das gesagt?«, wollte Sarah wissen.
»Kleiner Mann mit Brille ... Chektor.«
»Und woher soll ich wissen, dass Sie die Wahrheit sagen?«
»Chat mir etwas ausgerichtet ... soll sagen Losung ... Troischer Krieg ...«
»Trojanischer Krieg«, verbesserte Sarah seufzend und ließ die Waffe sinken - Hingis' Hang zum Gelehrtentum gestaltete praktische Dinge bisweilen etwas schwierig. Er hatte gesagt, dass ihm ein Führer empfohlen worden war, den er im Lauf des Nachmittags vorbeischicken wollte. Allerdings hatte sich Sarah den Mann, der sie durch die unwirtliche Wildnis der Chersonnes führen sollte, ein wenig anders vorgestellt.
»Und Sie Lady Cassandra, richtig?« Der Russe nahm die Hände herunter - riesige Pranken, die Schwielen hatten von schwerer Arbeit -, und entblößte ein gelbes, lückenhaftes Gebiss.
»Soweit es Sie betrifft, ja«, bestätigte Sarah. Es war Hingis'
Weitere Kostenlose Bücher