Das Licht von Shambala
Benommenheit. Auf dem feuchten Boden kauernd, warf er sich herum und sah die großen dunklen Schatten, die über ihm standen und auf ihn herabblickten.
Und im flackernden Schein des Feuers, kurz bevor er das Bewusstsein verlor und endgültig niedersank, erkannte der Junge die grinsenden Züge Viktor Abramowitschs.
7.
»Was bei allen Geistern der Wissenschaft ...?«
Friedrich Hingis war neben Sarah getreten. Wie sie starrte er fassungslos auf die grausige Szenerie, die der Fackelschein aus der Schwärze gerissen hatte.
Die Kammer war gerade so hoch, dass man aufrecht darin stehen konnte, jedoch schien sie sich weit in den Berg hinein zu erstrecken. Die Wände wurden von Regalen aus dunklem Holz gesäumt, in der Mitte gab es mehrere längliche Tische. Die daran befestigten Lederschlingen und die seitlich angebrachten Blutrinnen ließen vermuten, dass es sich um Operationstische handelte: roh zusammengezimmerte Möbel, wie ein Feldscher sie benutzte, und die in Wahrheit wenig mehr als Schlachtbänke waren. Noch mehr als die Tische und der beißende Gestank, der die feuchtkalte Luft tränkte, ließ jedoch der Inhalt der Regale die Besucher erschaudern. Denn was sich darin aneinander reihte, übertraf alles, was sie bislang gesehen hatten.
Es war ein Panoptikum des Grauens.
Dicht nebeneinander standen unzählige gläserne Gefäße unterschiedlicher Größe, die allesamt menschliche Körperteile enthielten. Abgetrennte Gliedmaßen waren ebenso dabei wie innere Organe, und aus einem zylinderförmigen Behälter blickte Sarah der Schädel entgegen, der sie aus dem Dunkel angestarrt hatte.
Das abgetrennte Haupt eines Zyklopen ...
»Mein Gott«, flüsterte sie, starr vor Entsetzen. »Worauf sind wir hier nur gestoßen?«
Sie musste ihre Beine zwingen, einen Schritt nach vorn zu tun und die Kammer des Grauens zu betreten. Der Lichtschein ihrer Fackel, so kam es ihr vor, folgte ihr nur zögernd. Flackernd wanderte er über die grausigen Exponate, die in gelblich schimmernder Flüssigkeit schwammen.
»Formaldehyd«, stellte Hingis erschüttert fest, »daher der Geruch. Einige der Behältnisse müssen undicht sein ...«
Der schlechte Zustand einiger Ausstellungsstücke bestätigte diesen Verdacht. Manche Exponate hatten sich bereits fast vollständig zersetzt, andere waren im Zerfall begriffen. Und während Sarah noch immer zu verstehen suchte, was jemanden dazu bringen mochte, einen Ort wie diesen einzurichten, stieß sie auf weitere Behältnisse, deren Inhalt zu schrecklich war, als dass sie den Anblick ertragen hätte.
Spontan fühlte sie Übelkeit in sich aufsteigen, wandte sich ab und übergab sich. Hingis eilte zu ihr und stützte sie, kaum weniger erschüttert als sie selbst.
»Sieh nicht hin, Sarah«, ermahnte er sie. »Sieh nicht hin!«
Sie schüttelte den Kopf und schluchzte, konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen traten. »Sag, dass es nicht wahr ist«, bat sie, »dass sie nicht wirklich hier sind ...«
Sie konnte fühlen, wie Hingis sich neben ihr verkrampfte. Der Freund schien selbst um Fassung zu ringen. »Es ist wahr«, krächzte er mit versagender Stimme, während er sich abwandte, weil auch er den Anblick der winzigen, deformierten Körper nicht mehr ertrug.
»Was ist hier geschehen?«, flüsterte Sarah. »Was haben diese Wahnsinnigen getan?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Hingis ein. »Und ich glaube, ich möchte es auch nicht herausfinden. Lass uns gehen, rasch ...«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Zuerst muss ich wissen, was hier vor sich ging.«
Sie riss sich von ihm los, wankte zu einem der Operationstische, um sich daran abzustützen. Dabei stieß sie gegen etwas, das von der niederen Decke hing und metallisch klirrte. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen starrte Sarah auf ein ganzes Arsenal an Sägen und Ahlen, wie ein Handwerker sie benutzte, aber gewiss kein Gefolgsmann des Hippokrates!
Erschrocken wich sie zurück und stieß gegen das Regal auf der anderen Seite der Kammer. Hingis und Yuri starrten entsetzt, nicht auf Sarah, sondern auf das, was sich hinter ihr befand.
»Das«, ächzte Hingis, »ist wohl deine Antwort ...«
Sarah spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Langsam wandte sie sich um, wappnete sich innerlich für einen neuen Schrecken ...
Es waren Schädel.
Achtzehn Knochenhäupter, die nebeneinander aufgereiht waren und eine grausige Metamorphose darstellten.
Der erste Schädel war der eines gewöhnlichen Menschen mit zwei
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