Das Licht von Shambala
...«
»Ja?«
Sarah verzog das Gesicht. »Auch auf die Gefahr hin, dass du mich ermahnen wirst, mich gefälligst an die wissenschaftlich überprüfbaren Fakten zu halten ...«
»Ja?«, hakte der Schweizer noch einmal nach.
»... muss ich gestehen, dass ich das Gefühl habe, diese Zeichen von irgendwo zu kennen. Sie kommen mir vertraut vor, obwohl ich genau weiß, dass ich sie noch nie gesehen habe. Ist das nicht verrückt?«
»Doch«, gestand Hingis trocken zu. »Aber gerade deshalb ergibt es einen gewissen Sinn.«
Sarah musste an die Dunkelzeit denken und an das, was el-Hakim ihr darüber gesagt hatte. War es möglich, dass sie diese fremdartigen Symbole aus der Zeit vor dem Fieber kannte? Dass sie ihre Bedeutung einst womöglich sogar gekannt hatte?
Der Gedanke war quälend und tröstend zugleich. Tröstend, weil er Sarah versicherte, dass sie auf dem richtigen Weg war, quälend, weil er ihr einmal mehr das Gefühl gab, unvollkommen zu sein. Womöglich ruhte das Wissen, das zu Kamals Befreiung nötig war, in ihr - und war dennoch unerreichbar weit entfernt ...
»Lass uns weitergehen«, drängte Hingis. »Dieser Geruch ist schwer zu ertragen.«
Sarah nickte. Auch sie merkte bereits, wie er ihre Sinne benebelte. Unwillkürlich musste sie an Griechenland denken, an ihren Abstieg in die Unterwelt und an das, was sie dort erlebt hatte. Der Kraft halluzinogener Drogen hatte der menschliche Verstand wenig entgegenzusetzen, und Sarah verspürte nicht das geringste Bedürfnis, ein zweites Mal einem Höllenhund oder einer anderen Ausgeburt ihrer eigenen düsteren Phantasie zu begegnen.
Sie huschten den Gang hinab, vorbei an Bildern, die die Einäugigen im Kampf gegen diverse Fabelwesen zeigten - und schließlich sogar gegen ihresgleichen ...
»Sieh dir das an, Friedrich«, zischte Sarah. »Auf diesem Bild kämpfen Einäugige gegen Einäugige!«
»Tatsächlich. Was mag das zu bedeuten haben?«
»Es deckt sich mit dem, was Polyphemos mir berichtete: dass sich die Zyklopen untereinander entzweit hätten und gegeneinander fochten«, erklärte Sarah.
»Aber warum?«, fragte Hingis. »Und weshalb interessiert sich die Bruderschaft dafür?«
»Die Antwort liegt womöglich dort in der Dunkelheit«, vermutete Sarah, »jenseits dieses beißenden Geruchs.«
Der Stollen endete in einer geräumigen Kammer, die zur Überraschung Sarahs und ihrer Begleiter bis unter die Decke mit Holzkisten angefüllt war. Auf der gegenüberliegenden Seite gab es einen Durchgang, der allerdings von einer Tür aus rostigem Eisen verschlossen wurde.
»Sieh an«, rief Yuri aus. »Was ist das?«
»Skythisch ist es jedenfalls nicht, so viel ist sicher«, konstatierte Hingis, der sich an einer der Kisten zu schaffen machte. »Konserven«, stellte er fest, nachdem er den Deckel leicht angehoben und hineingeleuchtet hatte. »Weiße Bohnen.«
»Hier ebenso«, verkündete Sarah, die in eine weitere Kiste gespäht hatte. »Jemand hat sich hier unten häuslich eingerichtet.«
»Wer auch immer gewesen, er chat davon viel Blächungen gekriegt.« Yuri lachte glucksend über seinen Scherz. »Zug reicht nicht, um Feuer zu machen. Also muss Zeug aus Dosen fressen ...«
»Richtig«, stimmte Sarah zu. »Offenbar hat jemand eine längere Zeit hier unten verbracht.«
»Nicht chat verbracht«, verbesserte der Russe und streckte Sarah einen Gegenstand entgegen, den er vom Boden aufgelesen hatte. »Verbringt immer noch.«
Was er ihr hinhielt, war eine leere Konservendose, die jemand achtlos auf den Boden geworfen hatte. Das Innere war nicht trocken, wie man es hätte vermuten sollen, sondern glänzte feucht im Licht der Fackeln. Der Führer hatte also recht - jemand hatte sich noch bis vor kurzem hier unten aufgehalten.
Oder er war noch immer hier ...
Unwillkürlich glitt Sarahs rechte Hand zur Hüfte und legte sich auf den Griff des Colt Frontier. Der kühle Perlmutt gab ihr ein wenig Sicherheit, aber der unbekannte Feind konnte überall lauern, hinter jedem Vorsprung, in jeder dunklen Nische.
In aller Eile suchten sie die Höhle ab, leuchteten in die Winkel hinter den Kisten, doch abgesehen von weiteren leeren Konservendosen fanden sie nichts. Schließlich entschieden sie weiterzugehen.
Die Eisentür war verschlossen, wobei das Vorhängeschloss alt und brüchig war. Ein gezielter Schlag mit einem spitzen Stein gab ihm den Rest. Mit einem Ruck zog Yuri den Riegel beiseite und stemmte sich gegen die Tür, während Sarah mit dem Colt in der Hand
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