Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
Bajonett, gleichzeitig irre lachend und weinend, auf ihre Kameraden. Mein Gott, wenn er nur daran dachte, wie er sich gefühlt hatte, als alles vorbei gewesen war …
Welches Recht hatte er also, Isabel zu verurteilen? Sie hatte eben ihre Grenze erreicht. Jeder Mensch hatte eine. Wirklich jeder. Und indem er ihr Lucy weggenommen hatte, hatte er sie so weit getrieben.
Spät in der Nacht zog Septimus Potts die Stiefel aus und wackelte mit den Zehen in den teuren Wollsocken. Als, wie so oft, sein Rücken knarzte, stöhnte er auf. Er saß an der Kante seines Betts aus massivem Dscharraholz, das aus seinem eigenen Wald stammte. Das einzige Geräusch war das Ticken des Reiseweckers auf dem Nachttisch. Er seufzte und betrachtete im Schein der elektrischen Lampen mit ihren rosafarbenen Glasschirmen die elegante Ausstattung des Zimmers – das gestärkte Leinen, die blank polierten Möbel und das Foto von Ellen, seiner verstorbenen Frau. Noch immer stand ihm das Bild seiner Enkelin vor Augen, wie sie sich an diesem Nachmittag verängstigt ins Gebüsch gekauert hatte. Die kleine Grace, von allen, außer Hannah, für tot gehalten. Das Leben schlug eigenartige Kapriolen. Wer zum Teufel konnte sagen, was es bringen würde?
Die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit beim Verlust der Mutter – nie hätte er gedacht, dies nach Ellens Tod noch einmal erleben zu müssen, bis er seine Enkelin im Garten gesehen hatte. Gerade hatte er geglaubt, alle Querschläger zu kennen, mit denen das Leben einen überraschen konnte, und schon präsentierte es einem den nächsten, wie ein Betrüger, der mit gezinkten Karten spielte. Er wusste, was das kleine Mädchen durchmachte. Und allmählich wurde er von Zweifeln beschlichen. Vielleicht, ja, vielleicht war es ja grausam gewesen, es der jungen Mrs. Sherbourne wegzunehmen …
Wieder betrachtete er das Porträt von Ellen. Graces Kiefer hatte dieselbe Form. Er verlor sich in Gedanken an zukünftige Weihnachtsfeiern und Geburtstage. Eine glückliche Familie, etwas anderes wünschte er sich nicht. Er stellte sich Hannahs gequälte Miene vor und erinnerte sich schuldbewusst, dass ihr Gesichtsausdruck derselbe gewesen war wie damals, als er versucht hatte, ihre Hochzeit mit Frank zu verhindern.
Nein. Der Platz des Kindes war hier bei seiner leiblichen Familie. Die Kleine würde von allem nur das Beste bekommen. Irgendwann würde sie sich an ihr richtiges Zuhause und ihre Mutter gewöhnen. Falls Hannah so lange durchhielt.
Er spürte Tränen in den Augen, und Wut stieg in ihm auf. Jemand sollte genauso leiden, wie seine Tochter gelitten hatte. Wie konnte man ein kleines Baby finden und es einfach behalten wie ein Stück Treibholz?
Er schob den bohrenden Zweifel beiseite. Die Vergangenheit und all die Jahre, in denen er Frank mit Nichtachtung gestraft hatte, konnte er nicht rückgängig machen. Aber jetzt hatte er die Chance, Hannah für alles zu entschädigen. Dieser Sherbourne würde für alles büßen. So wahr er Septimus Potts hieß.
Er knipste das Licht aus und beobachtete, wie sich das Mondlicht am silbernen Rahmen von Ellens Foto spiegelte. An das, was die Graysmarks in dieser Nacht empfanden, wollte er lieber gar nicht denken.
Kapitel 27
Seit Isabel von der Vernehmung zurück war, ertappte sie sich immer wieder dabei, dass sie Ausschau nach Lucy hielt. Wo steckte sie? War es schon Schlafenszeit? Was würde es zum Mittagessen geben? Und dann fiel ihr siedend heiß ein, wie die Dinge tatsächlich lagen, und sie durchlebte den schmerzlichen Verlust aufs Neue. Wie ging es ihrer Tochter? Wer versorgte sie mit Essen? Wer zog sie aus? Sicher war Lucy völlig verstört.
Das Bild, als man ihrer kleinen Tochter gewaltsam den bitteren Schlaftrunk eingeflößt hatte, schnürte Isabel die Kehle zu, und sie versuchte, es durch andere Erinnerungen zu überdecken: Lucy, die im Sand spielte. Lucy, die sich beim Sprung ins Wasser die Nase zuhielt. Ihr Gesichtsausdruck, wenn sie nachts schlief – entspannt, geborgen, sorglos. Es gab keinen wundervolleren Anblick auf der Welt als das eigene Kind im Schlaf. Die Abdrücke des kleinen Mädchens hatten sich in Isabels gesamten Körper eingegraben: Ihre Finger wussten, wie weich ihr Haar war, wenn sie es bürsteten; ihre Hüften erinnerten sich an ihr Gewicht und daran, wie sie ihre Beine fest um ihre Taille schlang; und ihre Wange war so warm und zart.
Während sie diese Szenen noch einmal durchlebte und ihnen Trost abrang wie einer verwelkten Blüte den
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