Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
die nicht angewachsenen Ohrläppchen, die trotz der Schwielen langen, zarten Finger.
Er unterzog sich der Inspektion, ohne mit der Wimper zu zucken, wie eine Beute, die sich dem Jäger aufgrund der geringen Entfernung geschlagen gibt. Währenddessen huschten flackernde Szenen an seinem geistigen Auge vorbei – das Boot, die Leiche, die Rassel. Alles, als wäre es erst gestern gewesen. Die Erinnerungen – wie er spätnachts in der Küche der Graysmarks den ersten Brief geschrieben hatte. Seine zusammengekrampften Eingeweide, als er über die Formulierung nachgrübelte. Lucys weiche Haut, ihr Kichern und ihr Haar, das schwebte wie Seetang, wenn er sie im Wasser der Schiffbruchbucht im Arm hielt. Der Moment, in dem ihm klar geworden war, dass er die Mutter des Kindes die ganze Zeit gekannt hatte. Er spürte, wie ihm am Rücken der Schweiß ausbrach.
»Danke, dass Sie mich empfangen, Mr. Sherbourne …«
Hannahs Höflichkeit erschreckte Tom mehr, als wenn sie ihn beschimpft oder den Stuhl gegen die Gitterstäbe geschleudert hätte.
»Mir ist klar, dass Sie nicht dazu verpflichtet sind.«
Er nickte nur.
»Seltsam, finden Sie nicht?«, fuhr sie fort. »Bis vor ein paar Wochen habe ich mich, wenn überhaupt, nur in Dankbarkeit an Sie erinnert. Doch wie sich herausstellt, sind Sie derjenige, vor dem ich mich in jener Nacht hätte fürchten sollen. ›Der Krieg verändert einen Mann‹, haben Sie gesagt. ›Er kann dann richtig und falsch nicht mehr unterscheiden.‹ Jetzt verstehe ich endlich, was Sie damit gemeint haben. – Ich muss eines wissen«, fuhr sie mit ruhiger Stimme fort. »Haben Sie das wirklich allein zu verantworten?«
Tom nickte langsam und ernst.
Kurz malte sich Schmerz in Hannahs Gesicht, als hätte sie jemand geohrfeigt. »Bereuen Sie Ihre Tat?«
Die Frage versetzte ihm einen Stich, und er richtete den Blick auf ein Astloch in den Dielenbrettern. »Ich bereue es mehr, als ich in Worte fassen kann.«
»Haben Sie nie einen Gedanken daran verschwendet, dass das Kind eine Mutter haben könnte? Konnten Sie sich nicht vorstellen, dass es geliebt und vermisst wird?« Sie blickte sich in der Zelle um und sah dann wieder Tom an. »Warum? Wenn ich nur den Grund begreifen würde …«
Er schob den Kiefer vor. »Ich kann wirklich nicht erklären, warum ich es getan habe.«
»Bitte, versuchen Sie es.«
Sie hatte es verdient, die Wahrheit zu erfahren. Allerdings konnte er ihr nichts offenbaren, ohne Isabel zu schaden. Er hatte getan, was nötig war – Lucy war wieder bei ihrer Mutter, und er musste nun die Folgen tragen. Der Rest bestand nur aus Worten. »Ich darf es Ihnen wirklich nicht sagen.«
»Der Polizist aus Albany denkt, dass Sie meinen Mann umgebracht haben. Stimmt das?«
Er sah ihr unverwandt in die Augen. »Ich schwöre Ihnen, dass er bereits tot war, als ich ihn fand … Ich weiß, dass ich mich anders hätte verhalten sollen. Ich bereue wirklich, welchen Schaden ich mit meinen Entscheidungen seit diesem Tag angerichtet habe. Doch Ihr Mann war schon tot.«
Sie atmete tief durch und wollte schon gehen.
»Machen Sie mit mir, was Sie wollen, ich bitte nicht um Gnade …«, sagte Tom, »… aber meine Frau hatte keine andere Wahl. Sie liebt dieses kleine Mädchen. Sie hat es umsorgt, als gebe es außer ihm nichts auf der Welt. Seien Sie gnädig mit ihr.«
Hannahs verbitterter Gesichtsausdruck wurde von Erschöpfung und Trauer abgelöst. »Frank war ein wunderbarer Mensch«, sagte sie, drehte sich um und ging langsam den Flur entlang.
Im Dämmerlicht lauschte Tom den Zikaden, deren Zirpen – ein Chor von Tausenden – die Zeit zu bemessen schien. Er ertappte sich dabei, dass er die Hände schloss und öffnete, als könnten sie ihn davontragen, was seine Füße nicht mehr vermochten. Während er sie betrachtete, dachte er über alles nach, was sie im Laufe der Jahre getan hatten. Diese Ansammlung von Zellen, Muskeln und Gedanken war sein Leben – und dennoch musste doch noch mehr dahinterstecken. Er kehrte wieder in die Gegenwart zurück – in die aufgeheizten Mauern und die stickige Luft. Die letzte Sprosse der Leiter, die ihn aus der Hölle hätte retten können, war weggebrochen.
Manchmal gelang es Isabel, stundenlang nicht an Tom zu denken. Sie half ihrer Mutter im Haushalt, betrachtete die Bilder, die Lucy während ihrer kurzen Besuche für Violet gemalt hatte, und trauerte immer mehr um den Verlust ihrer Tochter. Doch dann schlichen sich wieder Erinnerungen an Tom
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