Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
sie großgezogen haben, ist gleichermaßen unauslöschlich und selbstverständlich. Allerdings weiß sie nicht, dass das Gefühl, das die Trennung von ihnen ausgelöst hat, Trauer heißt. Sie kennt die Wörter »Sehnsucht« und »Verzweiflung« nicht.
Aber sie vermisst Mama und Dadda, leidet unter ihrer Abwesenheit und denkt selbst jetzt, nach vielen Wochen auf dem Festland, jeden Tag an sie. Offenbar ist sie sehr ungezogen gewesen, weil Mama so viel weint. Und was die Frau mit dem dunklen Haar und den dunklen Augen angeht, die behauptet, ihre richtige Mutter zu sein … Lügen ist böse. Warum also rückt die traurige Dame nicht von dieser dicken Lüge ab und wiederholt sie auch noch, wenn andere Leute dabei sind? Und weshalb lassen die Erwachsenen sie einfach gewähren?
Sie weiß, dass Mama hier in Partageuse ist und dass böse Männer Dadda weggebracht haben, allerdings nicht, wohin. Das Wort »Polizei« hat sie jetzt zwar schon öfter gehört, jedoch keine rechte Vorstellung davon, was es bedeutet. Sie hat auch viele Gespräche auf der Straße belauscht. »Was für eine Katastrophe, was für eine schreckliche Tragödie.« Außerdem hat Hannah gedroht, dass sie ihre Mama nie wiedersehen wird.
Janus ist zwar riesengroß, doch sie kennt jeden Quadratzentimeter der Insel: den Schiffbruchstrand, die Gefährliche Bucht, die Stürmische Klippe. Um nach Hause zu finden, braucht sie nur Ausschau nach dem Leuchtturm zu halten, hat Dadda ihr erklärt. Und da die Leute es dauernd sagen, weiß sie auch, dass Partageuse eine sehr kleine Stadt ist.
Als Hannah in der Küche und Gwen nicht zu Hause ist, geht das kleine Mädchen in sein Zimmer. Ordentlich schließt Lucy ihre Sandalen. Dann steckt sie eine Zeichnung, die den Leuchtturm, Mama, Dadda und Lulu darstellt, in eine Tasche. Dann kommen noch der Apfel, den die Dame ihr an diesem Morgen gegeben hat, und die Wäscheklammern, die sie als Puppen benutzt, hinein.
Leise schließt sie die Hintertür und sucht die Hecken im hinteren Teil des Gartens ab, bis sie eine Lücke entdeckt, die gerade breit genug ist, um hindurchzuschlüpfen. Sie hat Mama im Park gesehen. Dort will sie jetzt hin, um sie zu treffen. Dann werden sie gemeinsam Dadda suchen und nach Hause fahren.
Es ist später Nachmittag, als sie zu ihrer Mission aufbricht. Die Sonnenstrahlen fallen in einem schrägen Winkel auf die Erde, sodass die Schatten der Bäume bereits unnatürlich gedehnt sind wie Gummibänder.
Nachdem das kleine Mädchen sich durch die Hecke gezwängt hat, schleicht es mit der Tasche durch das niedrige Gebüsch hinter dem Haus. Die Geräusche hier sind so anders als auf Janus. So viele Vögel, die einander zurufen. Als sie weitergeht, wird das Unterholz dichter und grüner. Sie fürchtet sich nicht vor den Glattechsen, die schwarz und schuppig durch das Gestrüpp gleiten. Glattechsen tun einem nichts, das weiß sie sehr wohl. Allerdings ahnt sie nicht, dass, anders als auf Janus, nicht jedes schwarze Kriechtier hier eine Glattechse ist. Sie hat die lebenswichtige Unterscheidung zwischen Eidechsen mit Beinen und solchen ohne nie treffen müssen. Eine Schlange hat sie noch nie zuvor gesehen.
Als das kleine Mädchen den Park erreicht, dämmert es schon. Sie läuft zur Bank, doch von ihrer Mutter fehlt jede Spur. Sie setzt sich hin, hievt ihre Tasche hinauf und betrachtet ihre Umgebung. Dann holt sie den vom Transport eingedellten Apfel aus der Tasche und beißt hinein.
Um diese Uhrzeit herrscht in den Küchen von Partageuse geschäftiges Treiben. Die Mütter sind gereizt, die Kinder hungrig. Hände und Gesichter, schmutzig nach einem Tag Umhertollen zwischen den Bäumen oder Toben am Strand, werden gründlich geschrubbt. Väter gönnen sich ein Bier aus dem Eisschrank, während Mütter Töpfe mit kochenden Kartoffeln und Backröhren mit schmurgelnden Eintöpfen überwachen. Wohlbehalten und vollständig versammeln sich die Familien am Ende eines langen Tages. Der Himmel verdunkelt sich von Sekunde zu Sekunde, bis die Schatten nicht mehr von oben kommen, sondern aus dem Boden aufsteigen und die ganze Luft erfüllen. Die Menschen ziehen sich in ihre Häuser zurück und überlassen die Nacht den Wesen, denen sie gehört: den Zikaden, den Eulen und den Schlangen. Eine Welt, die sich seit Hunderttausenden von Jahren nicht verändert hat, erwacht zum Leben, als hätte es das Tageslicht, die Menschen und deren Einfluss auf die Landschaft nie gegeben. Die Straßen sind leer.
Als Sergeant Knuckey im
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