Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
können. Er stürzt sich auf die Insel, dass die Gischt über den Leuchtturm hinwegspritzt, und bricht Brocken aus den Klippen. Dazu gibt er Geräusche von sich wie eine brüllende Bestie, deren Wut keine Grenzen kennt. Das sind die Nächte, in denen der Leuchtturm am dringendsten gebraucht wird.
Wenn ein sehr schweres Unwetter tobt, verbringt Tom nötigenfalls die ganze Nacht im Leuchtturm, wärmt sich an einem Kerosinofen und trinkt süßen Tee aus einer Thermosflasche. Er denkt an die armen Teufel draußen in den Schiffen und dankt Gott dafür, dass er in Sicherheit ist. Dabei hält er Ausschau nach als Notsignal abgefeuerten Leuchtkugeln und hält die Jolle bereit zum Ablegen, obwohl die bei einem solchen Seegang vermutlich nicht viel ausrichten könnte.
In einer Nacht Anfang Mai saß Tom mit Bleistift und Notizbuch bewaffnet da und rechnete. Sein Jahresgehalt betrug dreihundertsiebenundzwanzig Pfund. Wie viel kostete ein Paar Kinderschuhe? Laut Ralph hatten Kinder einen atemberaubenden Schuhverschleiß. Und dann waren da auch noch die Kleider. Und die Schulbücher. Wenn er Leuchtturmwärter auf einer Insel blieb, würde Isabel die Kinder natürlich zu Hause unterrichten müssen. Allerdings fragte er sich in Nächten wie diesen, ob es richtig war, anderen Menschen, geschweige denn Kindern, ein solches Leben aufzuzwingen. Doch diese Sorge legte sich, als er an die Worte von Jack Throssel dachte, einem Leuchtturmwärter, den er im Osten kennengelernt hatte. »Für Kinder das Beste, was man sich vorstellen kann, das schwöre ich Ihnen«, hatte er damals zu Tom gesagt. »Meine sechs haben sich prima gemacht. Ständig haben sie irgendwelche Streiche im Kopf, erkunden die Höhlen oder bauen Hütten. Eine Bande richtiger kleiner Pioniere. Und die Missus sorgt dafür, dass die Schulbildung nicht zu kurz kommt. Glauben Sie mir, es ist ein Klacks, Kinder in einem Leuchtturm großzuziehen.«
Tom berechnete weiter, wie er ein wenig mehr sparen konnte, um genug für Kleider, Arztbesuche und weiß Gott sonst noch alles zur Seite zu legen. Der Gedanke, dass er Vater werden würde, löste in ihm gleichzeitig Nervosität, Aufregung und Angst aus.
Irgendwann begann er, in Erinnerungen an seinen eigenen Vater zu schwelgen. Und da der Sturm den Leuchtturm umtoste, war Tom in dieser Nacht taub für alle anderen Geräusche. Auch für Isabels Hilferufe.
Kapitel 9
»Soll ich dir eine Tasse Tee holen?«, fragte Tom hilflos. Er war ein praktisch veranlagter Mensch: Wenn man ihm ein empfindliches technisches Gerät anvertraute, konnte er es warten. Wenn ein Defekt auftrat, behob er ihn erfolgreich und in aller Seelenruhe. Doch beim Anblick seiner trauernden Frau wusste er sich keinen Rat.
Isabel blickte nicht auf.
»Vincent’s Powders vielleicht?«, versuchte er es weiter. Die Erste-Hilfe-Maßnahmen, in denen Leuchtturmwärter unterwiesen wurden, schlossen »die Wiederbelebung vermeintlich Ertrunkener«, die Behandlung von Unterkühlung und Sonnenstich, das Desinfizieren von Wunden und sogar die Grundlagen des Amputierens ein. Die Frauenheilkunde war allerdings im Lehrgang nicht zur Sprache gekommen, weshalb die Vorgänge bei einer Fehlgeburt für Tom ein Mysterium darstellten.
Seit dem schrecklichen Unwetter waren zwei Tage vergangen. Zwei Tage, seit die Fehlgeburt eingesetzt hatte. Obwohl Isabel noch immer blutete, gestattete sie Tom nicht, einen Notruf abzuschicken. Nachdem Tom während des Sturms die ganze Nacht Wache gehalten hatte, hatte er kurz vor Morgengrauen den Scheinwerfer gelöscht und war zur Hütte zurückgekehrt. Er wollte nur noch schlafen, doch als er ins Schlafzimmer kam, hatte er Isabel zusammengekrümmt auf einem blutgetränkten Bett vorgefunden. Noch nie hatte Tom einen so verzweifelten Ausdruck auf ihrer Miene gesehen. »Es tut mir so leid«, hatte sie gesagt. »So leid, Tom.« Im nächsten Moment wurde sie von einer erneuten Schmerzwelle ergriffen und hielt sich stöhnend den Bauch, damit es endlich aufhörte.
»Was nützt schon ein Arzt?«, fragte sie nun. »Das Baby ist tot.« Ihr Blick schweifte durchs Zimmer. »Was bin ich nur für eine Versagerin …«, murmelte sie. »Andere Frauen bekommen ihre Babys so nebenbei.«
»Izzy Bella, lass das.«
»Es ist ganz bestimmt meine Schuld, Tom.«
»Das stimmt nicht, Izz.« Er zog ihren Kopf an seine Brust und küsste immer wieder ihr Haar. »Du wirst wieder eines haben. Eines Tages werden fünf Kinder im Haus herumtoben, sodass du ständig über sie
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