Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
hatte. Eine gelungene Geburt war nur der erste Schritt auf einem langen, steinigen Weg. Violet, in deren Haus es schon vor Jahren still geworden war, wusste das nur zu gut.
Die zuverlässige und pflichtbewusste Violet Graysmark, ehrenwerte Gattin eines angesehenen Mannes, hielt die Motten aus den Schränken und das Unkraut aus den Blumenbeeten fern. Sie stutzte die Rosen zurück, sodass sie sogar im August blühten. Ihr Zitronenquark war beim Kirchenbasar stets als Erstes ausverkauft, und ihr Rezept für Rosinenkuchen war sogar für die Broschüre des Ortsverbands der christlichen Frauenvereinigung ausgewählt worden. Ja, sie dankte Gott jeden Abend dafür, wie gut sie es getroffen hatte. Doch an manchen Nachmittagen, wenn sich der Garten bei Sonnenuntergang von Grün zu einem stumpfen Braun verfärbte, während sie an der Spüle stand und Kartoffeln schälte, war in ihrem Herzen nicht genug Raum, um all die Verzweiflung zu fassen. Und als Isabel bei ihrem letzten Besuch geweint hatte, hätte Violet am liebsten auch bittere Tränen vergossen, sich die Haare gerauft und ihr gesagt, dass sie die Trauer kannte, die es bedeutete, den Erstgeborenen zu verlieren – kein Mensch und auch nicht alles Geld der Welt könne das wiedergutmachen, und der Schmerz verginge niemals wieder. Sie wollte ihr erklären, dass man davon verrückt werden und versuchen könne, mit Gott darüber zu verhandeln, welches Opfer man bringen müsse, um sein Kind zurückzubekommen.
Als Isabel schlief und Bill neben dem heruntergebrannten Kaminfeuer döste, ging Violet zu ihrem Schrank und holte die alte Keksdose vom obersten Regal. Sie kramte darin herum und schob ein paar Pennys, einen kleinen Spiegel, eine Uhr und eine Brieftasche beiseite, bis sie auf den vom jahrelangen wiederholten Öffnen an den Kanten abgewetzten Umschlag stieß. Dann setzte sie sich aufs Bett und las im gelben Schein der Lampe die unbeholfene Handschrift, obwohl sie den Inhalt schon auswendig kannte.
Sehr geehrte Mrs. Graysmark,
hoffentlich empfinden Sie es nicht als aufdringlich, dass ich Ihnen schreibe, denn Sie kennen mich nicht. Ich heiße Betsy Parmenter und wohne in Kent.
Vor zwei Wochen habe ich meinen Sohn Fred besucht, der wegen schwerer Schrapnellwunden von der Front ins Lazarett geschickt wurde. Er lag im 1. Southern General Hospital in Stourbridge, und da meine Schwester ganz in der Nähe lebt, konnte ich ihn jeden Tag sehen.
Ich schreibe Ihnen, weil eines Nachmittags ein verwundeter australischer Soldat eingeliefert wurde, bei dem es sich, wie ich annehme, um Ihren Sohn Hugh handelte. Es ging ihm sehr schlecht, da er, was Sie sicher wissen, erblindet war und einen Arm verloren hatte. Trotzdem konnte er noch ein wenig sprechen und schwärmte von seiner Familie und seiner Heimat Australien. Er war ein sehr tapferer Junge. Ich sah ihn jeden Tag, und anfangs hatte man große Hoffnung, dass er genesen würde. Doch dann entwickelte er offenbar eine Blutvergiftung, und es ging bergab mit ihm.
Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich ihm Blumen – die ersten Tulpen blühten gerade; sie sind ja so reizend – und Zigaretten mitgebracht habe. Ich glaube, mein Fred und er verstanden sich sehr gut. Er hat sogar ein wenig von dem Rosinenkuchen gegessen, den ich für ihn gebacken hatte, was mich wirklich gefreut hat, und er schien ihm zu schmecken. An dem Vormittag, als sich sein Zustand verschlechterte, war ich da, und wir haben zu dritt das Vaterunser gesprochen und »Herr, bleib bei mir« gesungen. Die Ärzte haben seine Schmerzen so gut wie möglich gelindert, und ich glaube, dass er gegen Ende nicht zu schlimm leiden musste. Auch ein Vikar kam und hat ihn gesegnet.
Ich möchte Ihnen sagen, wie sehr wir alle das große Opfer zu schätzen wissen, das Ihr tapferer Sohn gebracht hat. Er hat seinen Bruder Alfie erwähnt, und ich bete dafür, dass er wohlbehalten zu Ihnen zurückkehrt.
Ich entschuldige mich dafür, dass ich erst so spät schreibe, doch nur eine Woche nach Ihrem Sohn ist auch mein Fred gestorben, und ich musste deshalb, wie Sie sich sicher denken können, vieles erledigen.
Mit den besten Wünschen und Gebeten,
(Mrs.) Betsy Parmenter
Hugh hatte Tulpen nur aus Büchern gekannt, dachte Violet, und es tröstete sie, dass er vielleicht eine berührt und ihre Form abgetastet hatte. Sie fragte sich, ob Tulpen wohl dufteten.
Sie erinnerte sich an die ernste und beinahe schuldbewusste Miene des Postboten, als er ihr einige Wochen später das Päckchen
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