Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
brachte: braunes Packpapier, mit einer Paketschnur versehen und an Bill adressiert. In ihrer Trauer las sie nicht einmal die Aufschrift auf dem Formblatt: Das war überflüssig. So viele Frauen hatten schon die klägliche Sammlung der Gegenstände erhalten, die vom Leben ihres Sohnes übrig geblieben waren.
In dem beiliegenden Schreiben aus Melbourne hieß es:
Sehr geehrter Herr,
in der Anlage finden Sie per Einschreiben ein Päckchen mit der Habe des verstorbenen Gefreiten Nr. 4497 Graysmark, 28. Bataillon, eingetroffen an Bord der Themistocles, Auflistung des Inhalts anbei.
Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie so freundlich wären, mir mitzuteilen, ob Sie es unversehrt erhalten haben, indem Sie die beiliegende Empfangsbestätigung unterzeichnen und zurücksenden.
Mit freundlichen Grüßen
Major J. M. Johnson
Leiter der Registratur
Auf einem separaten Schreiben von »The Kit Store, 110 Greyhound Road, Fulham, London SW « waren die Gegenstände aufgeführt: »Rasierspiegel, Gürtel, drei Pennys, Armbanduhr mit Lederband, Mundharmonika.« Wie seltsam, dass sich Alfies Mundharmonika unter Hughs Besitztümern befand. Violet betrachtete noch einmal Liste, Formulare, Brief und Päckchen und las den Namen. A. H. Graysmark. Nicht H. A.: Alfred Henry, nicht Hugh Albert. Sofort lief sie zu ihrem Mann. »Bill! Oh, Bill!«, rief sie. »Es hat eine schreckliche Verwechslung gegeben!«
Nach einem umfangreichen Briefwechsel, vonseiten der Graysmarks auf Papier mit schwarzem Rand, wussten sie schließlich, dass Alfie am selben Tag gestorben war wie Hugh, und zwar nur drei Tage nach seiner Ankunft in Frankreich. Die beiden Brüder, die gemeinsam demselben Regiment beigetreten waren, waren stolz auf ihre aufeinanderfolgenden Dienstnummern gewesen. Der Funker, der mit eigenen Augen gesehen hatte, wie Hugh lebend auf einer Trage abtransportiert wurde, hatte den Befehl missachtet, das Beileidstelegramm wegen des Todes von A. H. Graysmark abzuschicken, da er angenommen hatte, dass H. A. gemeint sei. Und so hatte Violet erst durch ein schlichtes Päckchen vom Tod ihres zweiten Sohnes erfahren. »Solche Fehler ereigneten sich eben auf dem Schlachtfeld«, sagte sie.
Bei ihrem letzten Besuch im Elternhaus war sich Isabel wieder der Düsternis bewusst geworden, die sich seit dem Tod ihrer Brüder über alles gesenkt hatte. Der Verlust war in das Leben ihrer Mutter eingesickert wie ein Fleck. Als es geschah, war Isabel vierzehn gewesen und hatte im Wörterbuch nachgeschlagen. Sie hatte in Erfahrung gebracht, dass es ein eigenes Wort gab, um eine Frau zu beschreiben, die ihren Mann verloren hatte. Sie war nun eine Witwe . Ein Mann wurde zum Witwer . Doch wenn Eltern ein Kind verloren, existierte keine gesonderte Bezeichnung für ihre Trauer. Sie blieben Mutter und Vater, selbst wenn sie keinen Sohn oder keine Tochter mehr hatten. Das erschien ihr seltsam. Und was sie selbst betraf, fragte sie sich, ob sie eigentlich noch eine Schwester war, denn ihre beiden geliebten Brüder waren ja tot.
Es war, als wäre eine der Granaten von der französischen Front mitten in ihrer Familie explodiert und hätte einen Krater hinterlassen, den sie nie wieder zuschütten oder einebnen konnte. Violet verbrachte Tage damit, die Zimmer ihrer Söhne zu putzen und die silbernen Rahmen der Fotos zu polieren, die sie zeigten. Bill verfiel in Schweigen. Wenn Isabel versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, antwortete er nicht oder verließ sogar das Zimmer. Sie kam zu dem Schluss, dass es ihre Pflicht war, ihren Eltern weder Mühen noch Sorgen zu bereiten. Sie war der Trostpreis, das, was anstelle ihrer Söhne übrig geblieben war.
Die Begeisterung ihrer Eltern bestätigte Isabel in der Überzeugung, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, Lucy zu behalten. Nun lösten sich auch noch die letzten Zweifel in Wohlgefallen auf. Das Baby hatte das Leben so vieler Menschen erhellt. Nicht nur ihres und Toms, sondern auch das dieser beiden alten Leute, die über einem schweren Schicksalsschlag den Mut verloren hatten.
Beim Weihnachtsessen sprach Bill Graysmark ein Gebet und dankte Gott mit erstickter Stimme dafür, dass er ihnen Lucy geschenkt hatte. Später in der Küche vertraute Violet Tom an, ihr Mann sei wie verwandelt, seit er von Lucys Geburt gehört habe. »Es hat Wunder gewirkt. Wie ein Zaubertrank.«
Sie betrachtete den rosafarbenen Hibiskus draußen vor dem Fenster. »Schon die Nachricht von Hughs Tod hat Bill schwer getroffen. Doch
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