Das Lied der Cheyenne
aufhielten. Wo war Bärenkopf, der Häuptling? Wo waren Läuft-rückwärts, Weißes Pferd und Gelber Wolf? Wo waren Roter Mond und Kleiner Falke? Wo war Weißer Biber?
Wo war ihr Vater?
Sie ging jetzt schneller, rannte fast. Ihr Pony schnaubte unwillig. Sie ließ die Zügel los, beachtete nicht mal einen kleinen Jungen, der hilflos neben seinen toten Eltern weinte, und rief laut nach ihrem Vater und ihrer Mutter. Waren auch sie unter den Axthieben der Shar-ha gefallen? Steckten Pfeile in ihren Körpern? Hatten Kugeln ihr Fleisch zerrissen?
Sie erreichte das Tipi und sprang vom Pony. Weidenfrau saß neben dem Trockengestell und weinte um Windfrau, die von einem Pfeil getroffen worden war.
»Windfrau!«, rief die Schamanin entsetzt. Sie rannte zur toten Schwester ihrer Mutter und kniete neben ihr. Mit zitternden Fingern berührte sie das reglose Gesicht. Sie sang leise das Klagelied und umarmte erst dann ihre Mutter, die gar nicht gemerkt zu haben schien, dass sie gekommen war. »Mutter!«, sagte sie. »Ich bin zu spät gekommen.«
Weidenfrau blickte auf und sah sie lange an. In ihrer Trauer mischte sich Freude, ihre Tochter gesund wiederzusehen. »Die Geister haben es so gewollt, mein Kind.«
Die beiden umarmten sich. Sie weinten stumm und trauerten um Windfrau und die vielen anderen Männer, Frauen und Kinder, die bei dem Überfall der Shar-ha ums Leben gekommen waren. Später würden sie achtzehn Tote zählen, sieben Krieger, acht Frauen und drei Kinder.
»Wo ist Vater?«, fragte Büffelfrau, als sie sich voneinander lösten. »Wo sind die Krieger?«
»Sie sind zum Hauptlager geritten«, antwortete Weidenfrau. Ihre Stimme klang heiser. »Sie wollen mit den Häuptlingen über einen großen Krieg gegen die Shar-ha beraten.« Sie zögerte, bevor sie weitersprach. »Weißer Biber hat vorgeschlagen, die heiligen Pfeile auf den Kriegszug mitzunehmen.«
»Weißer Biber?«, erschrak Büffelfrau. Sie dachte an die Weissagung des weißen Büffels und die Bilder in ihren Träumen, die blutige Hand, die nach den Pfeilen griff. »Das darf er nicht tun!«, rief sie ängstlich.
»Was darf er nicht tun?«
»Er darf die Pfeile nicht gegen die Shar-ha tragen!«, beschwor Büffelfrau ihre Mutter. In ihrer Stimme schwang Panik mit. »Weißer Biber wird sterben! Die Shar-ha werden unsere Pfeile stehlen! Großes Unglück wird über unser Volk kommen!«
»Hast du das von deinem Schutzgeist erfahren?«
»Ich habe es in meinen Träumen gesehen«, antwortete Büffelfrau, »und der Schutzgeist hat es mir bestätigt. Er sah eine Schlacht, und er wusste, dass Weißer Biber die heiligen Pfeile tragen würde. Was soll ich tun, Mutter?«
Weidenfrau sah abgespannt und müde aus. »Ich weiß es nicht, mein Kind.« Sie hätte gern gewusst, wie der Schutzgeist aussah und was er noch gesagt hatte, aber es ziemte sich nicht, einen anderen über seine Vision auszufragen.
»Wie ist das passiert?«, wechselte Büffelfrau das Thema. Sie deutete mit einer müden Handbewegung auf die schwelenden Zelte und die Toten. Der kleine Junge, der neben seinen toten Eltern geweint hatte, hockte jetzt apathisch im Gras und starrte ins Leere. Ein Hund schnüffelte an dem Blut, das in den Boden gesickert war und das Gras gefärbt hatte.
»Die Shar-ha haben uns im Schlaf überrascht«, berichtete Weidenfrau. »Manche Leute sagen, sie greifen nur tagsüber an, weil sie nachts Angst vor den bösen Geistern haben, aber das ist eine Lüge. Sie kamen kurz vor dem Morgengrauen, und sie töteten Gefleckter Wolf, der die letzte Wache übernommen hatte.«
»Ich habe ihn gefunden«, sagte Büffelfrau traurig.
Weidenfrau schloss die Augen, bevor sie weitersprach. »Sie rissen Tipis ein und töteten Frauen und Kinder. Aiee, ich verachte sie dafür. Nur Feiglinge vergreifen sich an den Wehrlosen.« Sie deutete auf Windfrau. »Sie rannte nach draußen, als die ersten Schreie erklangen, und wurde von einem der ersten Pfeile getroffen. Büffelhöcker war dicht hinter ihr, aber es war schon zu spät. Sie war tot, als er dem feigen Shar-ha den Schädel spaltete.«
Büffelfrau blickte auf den toten Krieger, der einige Schritte entfernt im Gras lag. Sein Gesicht war kaum noch zu erkennen, aber sein Mund war jetzt noch zu einem stummen Schrei geöffnet. Er war ein großer Mann mit starken Muskeln, viel stärker als die Ho-he, die sie in den Bergen getötet hatte. Sie fragte sich, ob sie gegen einen solchen Mann bestanden hätte. Sie presste die Lippen aufeinander und wandte
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