Das Lied der Cheyenne
dem Morast und verschwand im Unterholz eines nahen Birkenwäldchens. Insekten summten über bunten Blumen. Es war ein friedlicher Morgen. Sie war mit Kriegern zusammen, die sie verehrten, und nur die Fesseln an ihren Händen und Füßen sagten ihr, dass die friedliche Ruhe täuschte. Sie war eine Gefangene. Sie war in der Gewalt der Shar-ha, die auch durch ihr seltsam freundliches Benehmen nicht zu Freunden wurden.
Sie entdeckte den Adler am Himmel. Er hatte sie nicht im Stich gelassen und begleitete sie ins Dorf der Shar-ha. Das gab ihr Hoffnung. Es musste einen Sinn haben, dass die Todfeinde ihres Volkes sie gefesselt hatten und dennoch wie eine Schwester behandelten. Ihr Schutzgeist hatte es vorausgesagt und ihr versprochen, dass die Shar-ha sie gut behandeln würden. Aber was bezweckten sie? Hatten sie wirklich Respekt vor ihr? Hatten sie Angst vor ihren magischen Kräften? Oder war dies nur ein Vorspiel zu einem grausamen Tod im Dorf der Shar-ha?
Ihr blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten, und sie fügte sich in ihr Schicksal. Sie ärgerte sich darüber, dass sie die Sprache der Shar-ha nicht beherrschte und nichts von dem verstand, was Singende Krähe und seine Begleiter sagten. Ihre Blicke und ihr Verhalten sagten ihr, dass sie großen Respekt vor ihr hatten, und der sanfte Ausdruck in den Augen des Anführers verriet aufrichtige Zuneigung, fast so etwas wie Stolz, die heilige Frau der tsis tsis tas getroffen zu haben. Das war seltsam, denn ihre Völker waren verfeindet, solange sie denken konnte, und es hatte immer Krieg zwischen ihnen geherrscht.
Abends lagerten sie in der Nähe eines kleinen Flusses, der über die Ufer getreten war, sein Wasser war eiskalt. Langes Haar fing ein paar Forellen und briet sie über dem Feuer, das Gekrümmte Hand zwischen einigen Steinen angezündet hatte. Singende Krähe und Büffelfrau saßen auf ihren Fellen und sagten nichts. Sie starrten ins Feuer und hingen ihren Gedanken nach, und beide schien die Nähe des anderen unangenehm zu berühren. Der Häuptling gab vor, sich mit seiner Pfeife zu beschäftigen, während Büffelfrau still betete.
Sie musterte den Anführer der Shar-ha. Im Glanz der Flammen und im Zwielicht des scheidenden Tages bot er eine imposante Erscheinung, daran gab es keinen Zweifel. Sein mit Fett eingeriebener Körper glänzte im Feuerschein, und seine Muskeln traten deutlich hervor. Er trug eine Kette aus Wolfszähnen um seinen Hals, und die Augen der ausgestopften Krähe auf seinem Kopf funkelten geheimnisvoll. Sein Gesicht war kantig, die Stirn hoch, die Nase gebogen und die Lippen fest und schmal. Seine Zähne glänzten. Seltsam waren nur seine Augen, die hart und unnachgiebig und im nächsten Augenblick sanft und großmütig blicken konnten.
Büffelfrau wollte etwas sagen, konnte mit ihren gefesselten Händen aber kein Zeichen geben. Sie hielt sie hoch und blickte den Häuptling fragend an. Singende Krähe zögerte eine Weile, willigte aber ein. Er stand auf, zog sein Messer und durchtrennte ihre Handfesseln. »Ha-ho«, sagte sie.
»Warum tust du das?«, fragte Gekrümmte Hand misstrauisch. Er saß an einem Baum gelehnt und reinigte seine Flinte.
»Sie ist auserwählt.«
»Sie darf uns nicht entkommen, Krähe.«
»Du wirst aufpassen.«
Büffelfrau verstand die Worte nicht. Sie massierte ihre steifen Hände und hielt sie über das Feuer. »Wann erreichen wir euer Dorf?«, fragte sie den Häuptling.
»Wenn die Sonne am höchsten steht«, antwortete Singende Krähe. Er blickte sie nicht an, und seine Miene verriet ihn erst, als er die größte Forelle aus dem Feuer nahm und ihr mit feierlichem Gesicht gab. Er goss frisches Flusswasser in eine Büffelschale und reichte es ihr. Sie nahm es verwundert an. Es war genauso, wie der Schutzgeist ihr gesagt hatte, sie bekam die größte Portion und das frischeste Wasser.
»Iss und trink«, gab er ihr zu verstehen. »Du musst stark sein, wenn du unseren xinesi begrüßt und das Kleid mit dem Kreuz trägst.«
Sie verstand nicht, was er damit meinte, fragte aber nicht. Im Dorf der Shar-ha würde sie erfahren, was die feindlichen Krieger mit ihrem seltsamen Verhalten bezweckten. Dann war aber auch keine Gelegenheit mehr, sich gegen ein drohendes Schicksal aufzulehnen. Büffelfrau hatte keine Wahl. Sie wurde wie eine Prinzessin behandelt, aber sie war immer noch eine Gefangene, auch ohne Fesseln. Das machte Gekrümmte Hand ihr klar, der seine Flinte zusammengesetzt und geladen und sie scheinbar
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