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Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Holeman
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im Kerzenschein oder im Sonnenlicht betrachtete oder ob sie gerade aufgeregt, müde oder traurig war. Er hatte solche Augen schon zuvor gesehen, wenngleich nur einmal, im Gesicht einer alten Frau. Er wusste nicht mehr, ob sie seine Großmutter gewesen war oder seine njanja oder aber eine Fremde, die sich irgendwann einmal in seiner Kindheit um ihn gekümmert hatte. Wie fast alles aus seinen frühen Kindertagen ist die alte Frau nur eine verschwommene, traumähnliche Erinnerung.
    Das letzte Mal, als er diese Frau hier sah, starrte sie ihm unverhohlen ins Gesicht, während er spielte, und obwohl er wusste, dass sie ihn mit ihrer Mutter im Bett gesehen hatte, empfand er keine Scham. Nach jenem letzten Abend, als sie miteinander sprachen – er erinnert sich wieder, dass sie sich unterhielten –, lag Walentin zusammen mit dem ersten Flötisten auf einer schmalen Pritsche in einem nasskalten Raum im Dienstbotenquartier und dachte an sie.
    Er hatte es immer gemocht, wenn es eine Frau in seinem Leben gab, an die er denken konnte, während er spielte. Es erfüllte ihn mit einem wohligen Verlangen, wenn er das Kinn an die Violine schmiegte und die Augen schloss. Dieser Hunger erzeugte eine Leidenschaft, die ihm die Arme hinab bis in die Finger floss und von dort in den Bogen. Und dann strich er – der Bogen – geschmeidig über die Saiten, wie geölt von seiner Lust. Das Blut rann warm durch seine Adern und Lenden, und er spürte, wie es ihn erregte, während er spielte. Aber es war eine emotionale Erregung, keine körperliche. Wenn er beim Spielen an eine bestimmte Frau dachte, war es, als würde sein Herz sich weiten, größer werden und stärker, und als schlüge es schneller, während es darauf wartete, dass … ja, auf was? Die Erfüllung? Eine Art Befreiung? Aber wovon genau, das hat er bislang noch nicht herausgefunden. Manchmal brannten seine geschlossenen Augen vor einer Sehnsucht nach diesem etwas, das ihm verborgen war.
    In jener Nacht wusste er, dass er bei den nächsten Auftritten an sie denken würde, an die junge Prinzessin Olonowa. Und so war es auch gekommen, während der darauffolgenden Woche, als er in verschiedenen Sälen vor Fremden spielte und die Augen schloss, auch wenn er sie nie wieder im Publikum erblickte.
    Und jetzt ist sie nach all den Jahren plötzlich wieder da. Wie war gleich ihr Vorname … sie hatte einen schönen, eleganten Namen, aber er fällt ihm nicht ein.
    Walentin ist müde. Er ist drei Tage lang in einer zugigen Britschka von Sankt Petersburg in die kleine Provinzstadt Pskow gereist, wo er an diesem Nachmittag mit einem Kammerorchester auf der Geburtstagsfeier einer Baroness spielte. Dann dauerte es weitere drei Stunden, um hierherzukommen – auf das Gut von Prinz und Prinzessin Bakanew. Kaum eingetroffen aß er in Eile einen Teller Fischsuppe und eine Scheibe dunkles Brot und trank bitteren lauwarmen Tee in der Dienstbotenküche, um sofort zu der zweistündigen Probe zu eilen, sodass ihm gerade noch genug Zeit blieb, um in seine Abendkleidung zu schlüpfen. Die Soiree begann um acht Uhr. Jetzt war es nach Mitternacht. Morgen würde er seine neue Stelle beim Prinzen und der Prinzessin antreten. Als Musiklehrer für ihre zwei Nichten, die aus Smolensk stammten und mit ihren Eltern mindestens bis Neujahr hierbleiben würden.
    Ist sein Leben als freier Mann anders als das als leibeigener Musiker? Als das Manifest über die Abschaffung der Leibeigenschaft verkündet wurde, erlaubte Prinz Jablonski seinen Musikern bei ihrer Entlassung, ihre Instrumente und Noten mitzunehmen. Andere hatten nicht so viel Glück; viele mussten ihre geliebten Instrumente und wertvollen Noten zurückgeben, als sie von ihren ehemaligen Besitzern in die Freiheit entlassen wurden.
    Walentin hat es in Sankt Petersburg leichter als viele andere: Er wird protegiert von Madame Golizyna, die ihn unter ihre Fittiche genommen hat. Sie stammt ursprünglich aus Frankreich und ist die wohlhabende Witwe eines russischen Grafen. Im Austausch dafür, dass er ihr Gesellschaft und gewisse andere Dienste leistet, kann er bei ihr wohnen, wenn er in der Stadt ist; außerdem bezahlt sie ihm die Kleidung für seine Konzertauftritte.
    Walentin hat schon in jungen Jahren gelernt – bereits im zarten Alter von fünfzehn, als er ins Orchester der Jablonskis aufgenommen wurde –, dass er den Frauen etwas zu bieten hat. Seit ihn zum ersten Mal eine prächtig gekleidete und wohl duftende Dame nach einem Konzert in ihre mit Vorhängen

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