Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
sprenkeln. Als Walentin noch dem wohlhabenden Prinzen Sergius Denisowitsch Jablonski gehörte, bestimmte dieser, wann, was und vor wem sein sorgfältig zusammengestelltes Orchester spielte. Für das Publikum der exklusiven Salons und Ballsäle war das Leibeigenenorchester immer eine willkommene Unterhaltung. Für Walentin war es sein Leben: diese erhebende Freiheit der Musik im Kontrast zum Gefängnis seiner Leibeigenschaft.
Doch inzwischen hat sich alles geändert. Er ist ein freier Mann und kann selbst entscheiden, wo er spielen möchte, mit wem und für wen. Ja, in Russland hat sich seit der Aufhebung der Leibeigenschaft alles geändert.
Und sie – diese Frau – hat sich ebenfalls verändert. Ihr Gesicht ist schmaler geworden, fast von durchscheinender Blässe, und ihre Augen … nun, sie sieht älter aus, beschließt Walentin, aber nicht nur in dem Maße älter wie die Jahre verflossen sind, seit er sie zuletzt gesehen hat – ist es ein Jahrzehnt her, oder mehr? Nein, ihr Blick zeugt noch von einer Veränderung, die viel tiefer reicht. Er hat ihn auf den Gesichtern von Bauern gesehen, die kürzlich noch Leibeigene waren, jenen, deren Leben sich von einem Tag auf den anderen änderte, ohne dass sie irgendwie hätten Einfluss nehmen können. Etwas Derartiges muss auch ihr zugestoßen sein, ein tiefgreifendes Ereignis, das nichts mit dem Altern zu tun hat. Ganz in Schwarz ist sie wie ein dunkler Schatten in diesem Raum voller schillernder Farben, auch wenn das Kleid ihre blasse Haut zur Geltung bringt und ihren Hals und ihre Hände förmlich leuchten lässt.
Während die Mitglieder des Orchesters ihre Instrumente heben, um das nächste Stück zu beginnen, schweift Walentins Blick für wenige Sekunden in ihre Richtung. Doch als die Viola einsetzt und die Melodieführung übernimmt, lässt er den Bogen sinken und starrt sie jetzt ganz unverhohlen an, erinnert sich plötzlich wieder. Es war auf dem Gut der Olonows, zum Fest ihres Namenstags; sie stand hinten im Saal. Wie heute: Auch jetzt bleibt sie hinten stehen, nicht wie die anderen Damen, die sich höflich einen Weg durch die Menge bahnen, um sich einen Platz in den ersten Reihen zu sichern.
Auf ihrem eigenen Fest damals schien sie eher gelangweilt zu sein, als das Orchester spielte. Statt nach vorn zu schauen, betrachtete sie die barocke Zierleiste an der hohen Decke, als würden die Details des kunstvoll geschmückten Saals sie mehr interessieren als die Musik. Doch er erinnert sich auch, wie ihre Augenbrauen gelegentlich zuckten, wie sie hin und wieder den Kopf drehte, wie ein Tier, das einen seltsamen Laut wahrgenommen hat. Das verriet sie. Auch wenn sie äußerlich distanziert wirkte, lauschte sie mit der allergrößten Konzentration. Musik ist sein Leben – schon als kleines Kind war das so –, und er erkennt jene, bei denen es sich ebenso verhält. Die anderen jungen Frauen in ihren raschelnden Roben warfen den Musikern vorn auf der Bühne schmachtende Blicke zu. Sie neigten die Köpfe kokett zur Seite, die befeuchteten Lippen leicht geöffnet, als warteten sie darauf, dass jeden Moment ihr Name erklänge – zärtlich gewispert von den Violinen und Cellos oder sanft gehaucht von den Blasinstrumenten.
Sie dachten nur an sich selbst. Sie waren nicht Teil der Musik. Sie ging ihnen nicht ins Blut über, rauschte nicht durch sie hindurch, erzeugte bei ihnen nicht das Gefühl eines plötzlichen schwindelerregenden Fiebers, das sie abwechselnd erschauern und erglühen ließ.
Nun sieht Walentin die Frau an, die am hinteren Ende des Raums steht, und versucht sich zu erinnern, was er damals in ihrem Gesicht gelesen hat. Walentin liebt die Frauen – und hat ein sehr gutes Gedächtnis, was sie betrifft. Er hat mit zahllosen Frauen geschlafen, aber er erinnert sich an jede Einzelne von ihnen.
Mit dieser hat er zwar nicht geschlafen, aber … ach ja. Mit ihrer Mutter, Prinzessin Olonowa. Die Tochter … was weiß er noch von ihr? Ja, er erinnert sich, dass er ein Verlangen an ihr wahrnahm, aber nicht das gleiche Verlangen wie bei den hübschen, seichten Mädchen . Sie schien nicht auf einen Flirt aus, träumte – wie ihm schien – nicht von einer beneidenswerten Ehe. Bei ihr war es etwas ganz anders. Sie hatte nichts Berechnendes an sich, trotz ihrer Intelligenz, die er an ihren Augen ablas. Waren sie blau oder grün? Oder gar grau? Sie hatten eine changierende, undefinierbare Farbe, die sich, wie er vermutete, ständig veränderte, je nachdem, ob man sie
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