Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
er ihr auf Russisch oder Französisch vorlas; wenn er aufgeregt von seinem Zoologieunterricht erzählte und was für wundervolle Tiere er entdeckt hatte, die auf fernen Kontinenten lebten; zu verfolgen, wie er durch den Geografieunterricht ein wachsendes Verständnis für die verschiedenen Teile der Erde entwickelte; seine Malstunden mit dem Zeichenlehrer. Und natürlich, das vor allem, wenn sie ihm beim Klavierspielen zuhörte.
Gut, sie hat Lilja, mit der sie reden kann, aber Antonina ertappt sich immer öfter dabei, dass sie ihre alte Freundin ein wenig ermüdend findet. Immer wieder versucht sie vergeblich, Lilja abends in ihr Zimmer im Dienstbotenquartier zu schicken, aber da ist nichts zu machen. Lilja will, dass es wieder so wie früher ist, als Mischa noch klein war. Sie liebte es so, still vor dem Kamin in Antoninas Zimmer zu sitzen und ihre filigrane Schiffchenspitze anzufertigen. Auf Antoninas Drängen hin lernte sie im ersten Jahr nach Mischas Geburt Lesen und Schreiben, wenn auch nur langsam und zögernd. Gelegentlich las sie auch in den Psalmen.
Oft empfindet Antonina ihre stille Gegenwart als tröstend, ja, aber sie hasst es, wenn sie Lilja mehrmals sagen muss, dass sie allein sein will. Der vorwurfsvolle Ausdruck, der dann auf Liljas Gesicht erscheint, ist ihr unangenehm, so als wollte sie Antonina daran erinnern, was vor vielen Jahren auf dem Olonow’schen Gut geschah.
Doch von diesem früheren Leben ist nichts mehr geblieben. Ihr Vater starb zwei Jahre nach Michails Geburt an Herzversagen, und das Gut wurde verkauft. Antoninas Mutter zog kurz darauf mit ihrem französischen Liebhaber nach Paris. In unregelmäßigen Abständen schrieb sie Antonina, bis die Briefe irgendwann ausblieben. Sie weiß nicht einmal, ob ihre Mutter noch lebt. Ihr Bruder Wiktor ist an den Folgen einer Verwundung gestorben, die er sich in der Schlacht von Alma im Krimkrieg zugezogen hatte, und ihr jüngster Bruder Dimitri ist, wie sie gehört hat, endgültig in einen Sumpf aus Alkohol, Spielschulden und Weibergeschichten abgerutscht. Nur Marik, ihr mittlerer Bruder, lebt noch auf dem kleinen Gut im Norden der Provinz Pskow, zusammen mit seiner Frau und vier Kindern. Doch vor einigen Jahren gerieten er und Konstantin bei einer Familienfeier aneinander, und da keiner bereit war, über seinen Schatten zu springen, hat Marik die Verbindung zu seinem Schwager – und damit auch zu seiner Schwester – abgebrochen.
Trotz des Verlusts ihrer Familie – oder vielleicht gerade deswegen – ist Antonina froh gewesen, ihr eigenes Heim zu haben, einen Mann und ein Kind, und schalt sich insgeheim manchmal, nicht dankbar genug zu sein. Sie war sich bewusst, dass sie nach Gutdünken über ihre Zeit verfügen und den müßigen Beschäftigungen nachgehen konnte, denen die Frauen ihres Standes gern frönten. Immer gab es einen Grund für Besuche auf anderen Gütern, wo man mehrere Tage oder gar Wochen blieb; oder sie lud Bekannte zu sich nach Angelkow ein, um in dem weitläufigen Park spazieren zu gehen, im Sommer Bootsfahrten und im Winter Ausflüge mit der Troika durch den glitzernden Schnee zu unternehmen. Hin und wieder gab es Whist- oder Musikabende. Aber Antonina fühlte sich in Gesellschaft vieler Menschen nicht besonders wohl. Doch auch wenn sie am liebsten allein oder mit Mischa zusammen war, verspürte sie bisweilen eine nagende Unruhe, so als würde das Leben sinnlos verstreichen. Als würde sie mitgerissen von einem Strom, ohne die Richtung zu kennen, während sie sich hilflos nach etwas umsah, woran sie sich festhalten konnte. Oder vielleicht auch nach jemandem.
Lilja ermuntert Antonina, die Einladung der Bakanews anzunehmen. » Du warst nicht mehr unter Leuten seit … « – sie überlegt kurz – » seit Langem jedenfalls. Vielleicht tut es dir gut, alte Freunde wiederzusehen. «
Antonina betrachtet die cremefarbene Karte, die Pawel ihr gebracht hat. Sie sitzt am Klavier. » Freunde? « , sagt sie und sieht Lilja an. » Das sind nicht meine Freunde, es sind Konstantins Freunde. «
» Trotzdem, Tosja « , sagt Lilja. » Wäre es nicht wunderbar, mal wieder eines deiner prächtigen Kleider anzuziehen – das kastanienbraune aus Seide zum Beispiel? Du siehst so schön darin aus. «
Antonina nippt an ihrem Wodka, ehe sie ein Arpeggio erklingen lässt. Ihre Finger geraten auf den Tasten ins Straucheln, der Akkord misslingt. Sie versucht es erneut, wieder vergeblich, und setzt dann zu einem Sonatenrondo von Haydn an. Sie
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