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Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Holeman
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verhängte Kutsche mitgenommen hat, setzt Walentin seinen Charme gezielt ein. Jene Dame zeigte ihm, wie er ihr Lust bereiten konnte; anschließend schenkte sie ihm einen kleinen Lederbeutel voller Rubel. Diese Art von Stelldicheins brachten Abwechslung in seinen Alltag als Leibeigenenmusiker, und die gelegentliche Entlohnung für seine Dienste in Form eines Beutel voller Rubel, einem edlen Kleidungsstück oder teuren Zigarren machten sein Leben lebenswerter.
    Nun, als freier Mann, spielt Walentin, wenn sich ihm die Gelegenheit bietet, auf Soireen in Sankt Petersburg, muss aber, wenn die Aufträge rar sind, gelegentlich auch Angebote auf dem Land annehmen. Was immer verbunden ist mit unbequemen Reisen und lange Arbeitszeiten – und er muss obendrein auf den Komfort eines warmen Bettes und einer warmen Mahlzeit im Haus von Madame Golizyna verzichten.
    Ja, er wird jetzt für seine Arbeit bezahlt, aber es ist ein Hungerlohn.
    Wie auch immer, jeden Morgen und Abend dankt er Gott auf Knien, dass er ihn als jungen Mann in dieser verheißungsvollen Zeit auf der Welt sein lässt. Er muss niemandem mehr gehorchen und lebt nicht länger in der Angst, dass Prinz Jablonski ihm aus einer Laune heraus seine Violine wegnehmen könnte. Er muss nicht mehr fürchten, zum Arbeiten aufs Feld geschickt zu werden und nie mehr den Satinüberzug des Kinnhalters an der Wange zu spüren und den federleichten Bogen zwischen den Fingern.
    Ja, Walentin Wladimirowitsch ist Gott und Zar Aleksandr II . dankbar, auch wenn er all seinen Witz und Verstand aufbieten muss. Stets hält er Ausschau nach einer Gelegenheit – oder einer Frau –, um sich ein besseres Leben zu schaffen.
    An diesem Abend sieht Walentin, wie die Frau, die damals auf dem Olonow’schen Gut noch ein junges Mädchen war, hereinkommt, nachdem das Orchester die Instrumente gestimmt hat. Genau in dem Moment, da der Pianist die Finger über den Tasten spreizt, die Bögen erwartungsvoll über den Saiten verharren und die Flötisten das Rohrblatt befeuchten, schlüpft sie in die letzte Reihe im hinteren Teil des Musiksalons, so vorsichtig, als wären ihre Knochen porös oder zerbrechlich. Sie bewegt sich wie eine Feder, die von der Brust einer Trauertaube herabschwebt. Er ist sich sicher, dass ihre Schritte lautlos sind. Kam sie damals nicht auch geräuschlos in das Zimmer ihrer Mutter und jagte ihm einen gehörigen Schrecken ein?
    Sie setzt sich nicht, sondern bleibt stehen, die Hände vor ihrem Taftrock gefaltet, als wollte sie sie jeden Moment zum Gebet erheben. Sie heftet den Blick auf die kunstvoll verzierten und mit Fransen versehenen Schabracken am oberen Rand der Fenster und verharrt, bis auf ein gelegentliches Zucken ihrer Augenbrauen, die ganz Zeit reglos. Er erinnert sich wieder, dass sie sich damals vom Orchester die Séparation in f-Moll wünschte. Er hat nicht nur ein gutes Gedächtnis in Bezug auf Frauen, sondern weiß noch genau, welches Musikstück wann gespielt wurde.
    Heute Abend wird er dafür sorgen, dass sie dieses Stück erneut zu hören bekommt, vielleicht wird sie ihn dann anschauen und wiedererkennen. Sie soll wissen, dass er sie wiedererkannt hat.
    Er beugt sich zu den anderen Musikern hinüber und teilt ihnen mit, dass sie als letztes Stück dieses Abends Glinkas Nocturne spielen.
    » Sollen wir die Programmänderung dem Publikum bekanntgeben? « , fragt der Pianist ihn.
    Walentin schüttelt den Kopf. Es ist ihm gleich, ob es dem Publikum gefällt oder nicht. Das Einzige, was ihn interessiert, ist, die Aufmerksamkeit dieser Olonowa, oder wie immer sie jetzt heißt, auf sich zu lenken. Bestimmt ist sie schon seit einigen Jahren verheiratet. Oder gar verwitwet, wie ihr schwarzes Kleid vermuten lässt.
    Er hebt seinen Bogen und wartet auf den Einsatz des Pianisten. Während sich die lieblichen Klänge des Nocturnes entfalten, beobachtet er sie, und als er den Bogen auf die Saiten seiner Violine senkt, blinzelt sie – oder zuckt gar ein wenig zusammen –, ehe sie den Blick auf ihn richtet. Er spürt einen Anflug freudiger Erregung. Doch dann wird ihm klar, dass sie ihn gar nicht zu sehen scheint. Ihre Augen glänzen, schimmern verräterisch. Selbst aus der Entfernung erkennt er, dass sie grün sind. Aber er sucht vergeblich nach einem Zeichen des Wiedererkennens in ihrer Miene.
    Stattdessen sieht er eine tiefe Angst. Das Stück schreitet in sanften Wellen voran, die Saiten seiner Violine erbeben, sind gespannt, und ihr Gesicht spiegelt die Schmerzlichkeit

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