Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
zunächst nicht besonders attraktiv gefunden – die dunklen mandelförmigen Augen, die kleine hübsche Nase und das glänzende schwarze Haar, das im Nacken mit einem Band zusammengefasst war und ihr bis zur Taille reichte –, wurden ihr Gesicht und ihr Lächeln ihm mit der Zeit immer vertrauter. Auch schätzte er ihre zurückhaltende, ehrerbietige Art. Mit ihrem Vater unterhielt sie sich auf Burjatisch, aber mit dem ehemaligen Obersten sprach sie Russisch mit einem leichten Akzent, der ihr, je mehr er sich für sie zu interessieren begann, einen besonderen Charme verlieh.
Ula war mit einem jungen Burjaten verlobt gewesen, der ein Jahr vor Aleksandrs Ankunft in Tschita an einem Fieber gestorben war. Der ehemalige Offizier beeindruckte sie mit seinem würdevollen und korrekten Auftreten, das ihn von den russischen Bauern abhob, die in Tschita wohnten. Und die respektvolle und dennoch offene Art, mit der er sie ansah – was ihn wiederum von den zurückhaltenden Burjaten unterschied –, machte sie zwar verlegen, reizte sie jedoch auch.
Ulas Vater wollte, dass seine Tochter heiratete und glücklich wurde. Aleksandr war fünfunddreißig und damit fünfzehn Jahre älter als Ula, aber das war in den Augen des Vaters kein Hindernis. Was Temudschin mehr Sorgen bereitete, war der unterschiedliche kulturelle und religiöse Hintergrund der beiden. Aleksandr besuchte jeden Tag die heilige Messe in der kleinen orthodoxen Kirche, bei deren Bau seine Dekabristen-Kameraden und er geholfen hatten.
Als Aleksandr Temudschin um die Hand seiner Tochter bat, äußerte dieser seine Bedenken. Aleksandr versicherte ihm jedoch, dass er Ula selbstverständlich erlauben würde, ihren buddhistischen Glauben beizubehalten. Sollten sie Kinder bekommen, würden diese eben sowohl in dem einen als auch dem anderen Glauben erzogen werden.
Und so heirateten Aleksandr und Ula. Abends brachte Aleksandr seiner jungen Frau bei, ihren Namen auf Russisch zu schreiben und zu lesen. Er lauschte ihren Geschichten aus ihrer Kindheit und lernte durch sie den Buddhismus kennen. Obwohl sie nur wenige Gemeinsamkeiten hatten, war Aleksandr dankbar, eine ruhige, bescheidene Frau gefunden zu haben, mit der er sein restliches Leben verbringen konnte, und empfand tiefe Freude, als ein Jahr nach der Hochzeit Timofei Aleksandrowitsch geboren wurde. Zunächst schien es bei dem einen Kind zu bleiben, doch sieben Jahre später folgte überraschend und zu ihrer großen Zufriedenheit mit Nikolai Aleksandrowitsch ein weiterer Junge.
Als der kleine Tima alt genug war, die Gebetsmühle zu drehen und mit seiner Mutter im dazan – dem kleinen burjatisch-buddhistischen Tempel, der zum örtlichen buddhistischen Kloster gehörte – die buddhistischen Gesänge zu singen oder vor den Ikonen zu beten und sich auf orthodoxe Art von rechts nach links zu bekreuzigen, wie sein Vater es ihn gelehrt hatte, war aus Temduschins Werkstatt mit Aleksandrs Hilfe ein florierender Betrieb geworden. Hatte das frisch vermählte Paar noch in der traditionellen Hütte gewohnt, war Aleksandr bald in der Lage, ein kleines Haus zu bauen. Er errichtete es im Stil einer Datscha, dieser kleiner Sommerhäuser, in denen er als Kind so gern die Ferien verbracht hatte, und strich die Fensterläden blau an.
Auch wenn er wusste, dass er nie wieder durch die Straßen einer belebten, eleganten Stadt flanieren oder ein großes, stolzes Offizierspferd reiten oder sich unter die gesellschaftliche Elite von Sankt Petersburg oder Moskau mischen und Einfluss auf die Politik Russlands nehmen würde, fand Aleksandr zu guter Letzt doch noch ein bescheidenes Glück.
Er hatte keine Energie mehr, um für irgendetwas zu kämpfen. Er war es müde, Konflikte auszutragen.
Wenn er das Kreuzzeichen über seinen schlafenden Söhnen machte oder seine Frau nachts in seinen Armen lag und er das Gesicht in ihrem dichten duftendem Haar barg, hatte er das Gefühl, als hätte er ein neues Leben geschenkt bekommen. Gewiss, niemand konnte ihm seine erste Frau und die Töchter in Sankt Petersburg ersetzen, aber dank Ula und der beiden Söhne war sein Leben nicht länger eine Qual.
Timofei hatte die dunklen Augen und hohen Wangenknochen seiner Mutter geerbt und vom Vater die helle Haut und das sanft gewellte Haar, dessen schwarze Farbe wiederum der Mutter geschuldet war. Sein jüngerer Bruder Nikolai – Kolja genannt – war blond und hatte blaue Augen wie sein Vater. Auch war er zarter gebaut als sein Bruder.
Aleksandr stellte
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