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Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Holeman
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Mehr noch: Er ermutigte sie, sich wieder zu verheiraten, damit seine Kinder einen neuen Vater bekämen. Er wollte nicht, dass jene, die er am meisten liebte, für seine Tat bestraft wurden.
    Ein Jahr lang leistete er Zwangsarbeit in einer der Minen in einem abgelegenen Winkel der Provinz Irkutsk. Während der unmenschlichen Schufterei unter Tage war er an seine Schubkarre angekettet, und um ihn herum herrschten Grausamkeiten und Tod. Nunmehr Mitte dreißig musste er lernen, dass die schlimmste Form der Unterdrückung die war, in der die Menschen dazu gebracht wurden, sich gegenseitig zu verraten.
    Nach einem Jahr der Plackerei und Entbehrungen erhielt er den Befehl, sein weiteres Leben in der Verbannung zu fristen. Sein Bestimmungsort war Tschita, eine Kleinstadt in einem dünn besiedelten Gebiet Ostsibiriens, das achthundert Kilometer östlich der größten sibirischen Stadt Irkutsk lag. Hier gabelten sich die Straßen in die Mongolei und nach China. Das kleine Tschita wurde unter anderem von Burjaten bevölkert: Buddhisten aus der Mongolei, die über die nahegelegene Grenze ins Land gekommen waren und ihre Kultur und Religion mitgebracht hatten.
    Zu einem in Lumpen gewickelten Skelett abgemagert traf Alexander in Tschita ein. Er hoffte, dass das Leben in der Verbannung in einem abgelegenen, windigen Ort einfach sein würde im Vergleich zu dem, was er in der Mine erlebt hatte. Doch in Wahrheit erlebte er eine andere Form des Schmerzes: die der Einsamkeit und Isolation. Die endlosen Wintermonate, in denen es nie richtig hell wurde und ein steter Wind um die Häuser heulte, verbrachte er in einer Hütte, wo es so kalt war, dass seine Haare morgens an seiner dünnen Pritsche festgefroren waren. Er trauerte um sein früheres Leben, seine Frau und Kinder, die er nie wiedersehen würde. Da wusste er, dass er sein Leben ändern musste, wenn er nicht vor Einsamkeit und Verbitterung sterben wollte.
    Für jemanden wie Alexander bestand die einzige Möglichkeit, in Sibirien zu überleben, darin, irgendetwas zu produzieren. Und er brauchte eine Frau, die ihn nachts wärmte.
    In dem kurzen, aber warmen Sommer erwachte das Dorf zu neuem Leben. Alexander fragte überall nach Arbeit. Die meisten Dorfbewohner wussten, dass die verbannten Offiziere zwar gebildet waren, aber in der Regel ihre Hände nicht zu gebrauchen wussten, und stellten nur ungern welche ein.
    Aber einer gab Alexander Danilowitsch schließlich doch eine Chance. Temudschin, ein Küfer, lehrte ihn, Dauben zu behauen und zu schleifen und zu Fässern zusammenzufügen; dafür bekam er zu essen und eine Hütte, die besser war als die vorige. Temudschin war beeindruckt von Alexanders Größe und konnte sich vorstellen, dass er mit etwas mehr Fleisch auf den Rippen kräftig zupacken könnte. Außerdem gefielen ihm seine würdevolle Art und sein unermüdlicher Arbeitseifer. Dass Alexander ein verbannter ehemaliger Revolutionär war, war ihm gleich. Temudschin war Burjate, ein Witwer, der aus Werchneudinsk stammte, einem Ort etwa hundertfünfzig Kilometer östlich des Baikalsees. Temudschin erkannte in Aleksandr einen ehrlichen, fleißigen Mann. Und so gab er ihm neue Hoffnung.
    Alexander wiederum mochte den Geruch der Holzspäne und den beruhigenden Rhythmus der Dechsel, mit der er die Dauben bearbeitete. Nach ein paar Monaten traf ein weiterer Dekabrist in Tschita ein – jemand seines Standes, der für dieselben Ziele gekämpft hatte –, und zwischen den beiden erwuchs eine Freundschaft, die Alexander guttat. Mit der Zeit gesellten sich noch eine Handvoll Verbannter zu ihnen, sodass die ehemaligen russischen Offiziere bald einen kleinen gesellschaftlichen Zirkel in Tschita bildeten.
    Zwei von Alexanders ehemaligen Mitstreitern waren in der glücklichen Lage, noch immer verheiratet zu sein. Ihre Frauen hatte die endlose, qualvolle Reise auf sich genommen und alles zurückgelassen, um mit ihren Männern zusammenbleiben zu können. Aleksandr weigerte sich, angesichts der beiden Paare in Selbstmitleid zu versinken, spürte jedoch den wachsenden Wunsch nach einer Gefährtin. Es gab ein paar wenige alleinstehende oder verwitwete Russinnen in Tschita, allerdings gehörten sie dem Bauernstand an. Aleksandr konnte sich jedoch nicht vorstellen, eine Russin unter seinem Stand und dem seiner früheren Frau zu heiraten.
    Anfangs hatte er Temudschins Tochter Ula keine große Aufmerksamkeit geschenkt, wenn sie ihrem Vater das Mittagessen brachte. Hatte er ihre mongolischen Züge

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