Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
seinem Mund.
Sie öffnet die Tür. » Nein, ich mache es lieber selbst. Und … Grischa? «
Den Fuß erst halb im Stiefel unterbricht er sich und sieht sie erwartungsvoll an. Er lächelt zaghaft, wirkt zufrieden.
» Ich habe gestern Abend zu viel Wodka getrunken, Grischa. Ich war nicht … Nach dem, was in Tuschinsk vorgefallen ist, und der Sache mit meiner Nase … Aber es war ein Fehler. Verstehst du? Ich weiß einfach nicht mehr, was in mich … «
Sie wissen beide, dass sie sich mit einer Lüge behelfen muss. Er widerspricht ihr nicht.
Sie kann in seinem Gesicht nicht lesen, was er fühlt, aber der zufriedene Ausdruck ist verschwunden.
» Wir werden nicht mehr darüber reden « , sagt sie. Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen, aber aus unerfindlichem Grund tut sie es dennoch: » Hast du verstanden? «
Da bemerkt sie, wie sich Grischas Gesicht verschließt. Jetzt ist er wieder ihr Verwalter. Ebenso gut könnte sie ihm jetzt befehlen, ihr eine bestimmte Rechnung zu bringen oder einen der Bediensteten zur Rechenschaft zu ziehen, der seine Aufgaben vernachlässigt hat. » Ja, ich habe verstanden. « Jede Spur von Zärtlichkeit ist aus seiner Stimme gewichen, nichts erinnert daran, was sie kurz zuvor getan haben.
» Gut « , sagt Antonina bestimmt. Als Grischa aus der Datscha herauskommt, sitzt sie bereits auf Dunja, die in der kalten Herbstluft unruhig hin- und hertänzelt.
Antonina fällt es schwer, neben Grischa nach Hause zu reiten.
Sie weiß, dass er sich ihr nicht aufgedrängt hat; es war anders herum. Grischa hätte niemals gewagt, sich ihr zu nähern, hätte sie ihn nicht ermutigt.
Tima. Sie versucht, diesen Namen aus ihrem Kopf zu verbannen, aber es gelingt ihr nicht.
Grischa denkt daran, wie sich sein Name aus ihrem Mund angehört hat. Er fühlte sich an eine unschuldigere Zeit erinnert, eine Zeit, bevor er sein großes Unrecht begangen hatte. Die Art, wie sie ihn aussprach, erlaubte ihm, eine Nacht lang zu vergessen, was er nie ganz hat vergessen können.
Seit zwanzig Jahren hat ihn niemand mehr Tima – die Kurzform von Timofei, seinem Taufnamen – genannt. Als er ihn zuletzt hörte, war er fünfzehn und lief vor allem davon, was er bis dahin gekannt hatte.
FÜNFUNDZWANZIG
T imas Vater war ein polkownik, ein Oberst in der russischen Armee, gewesen. Außerdem war Oberst Alexander Danilowitsch Kasakow einer der berüchtigten Dekabristen, die 1825 am Dezemberaufstand teilnahmen. Die Schar ranghoher Offiziere hatte sich zum Senatsplatz begeben und versucht, den Senat – und Zar Nikolai I. – zu zwingen, ein Manifest zur Abschaffung der Autokratie und der Leibeigenschaft zu unterzeichnen.
Wie seine Mitstreiter auch war Aleksandr Kasakow im Lauf seiner militärischen Laufbahn nach Europa gereist. Für die gebildeten russischen Offiziere war die westliche Welt eine Offenbarung. Diese Erfahrung weckte in ihnen den Wunsch nach grundlegenden Veränderungen in ihrer Heimat, einem Land, wo noch Unterdrückung und Unfreiheit herrschten. Aber der Aufstand der Offiziere wurde rasch niedergeschlagen und führte dazu, dass sich Nikolai I. jeder Form der politischen oder gesellschaftlichen Liberalisierung noch mehr verschloss. Die Dekabristen indes bezahlten einen hohen Preis für ihr Bestreben, die Leibeigenschaft abzuschaffen und das Elend der Bauern zu lindern. Fünf Offiziere wurden exekutiert, die meisten anderen wurden zu lebenslanger Verbannung in Sibirien verurteilt.
Um ein Exempel zu statuieren, wollte der Zar ihre Spuren bis in alle Ewigkeit auslöschen. Den Frauen von Verbannten war es in der Regel zwar erlaubt, ihren Männern nach Sibirien zu folgen, aber im Falle der Dekabristen hatten Staat und Kirche deren Frauen zu Witwen erklärt: Es stand ihnen frei, sich wiederzuverheiraten, ohne zuvor eine Scheidung zu erlangen. Einige der Frauen widersetzten sich dem Urteilsspruch und folgten ihren Männern, allerdings zahlten auch sie einen hohen Preis: Sie mussten auf alle weltlichen Besitztümer verzichten und, schlimmer noch, durften ihre Kinder nicht mitnehmen. Und sollten ihre Männer vor ihnen sterben, warnte man sie, wären sie weiterhin dazu verdammt, bis an ihr Lebensende in Sibirien zu bleiben und für sich selbst zu sorgen.
Aleksandr Kasakows Frau konnte den Gedanken, ihre zwei kleinen Töchter zurückzulassen, nicht ertragen. Ihr Mann unterstützte sie in ihrem Entschluss, in Sankt Petersburg zu bleiben, und erteilte ihr vom Gefängnis in der Peter-und-Paul-Festung seinen Segen.
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