Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
sicher, dass seine Söhne sowohl in Russisch als auch Französisch lesen und schreiben lernten. Sobald er Tima für verständig genug hielt, erklärte er ihm in einfachen Worten die politische Situation in Russland. Er erzählte ihm offen von seiner Vergangenheit in der Armee, seiner Rolle im Dezemberaufstand und erklärte ihm, warum er in die Verbannung geschickt worden war. Besonderen Wert legte er darauf, dem Jungen den Freiheitsbegriff nahezubringen und dass er verstand, warum sein Vater für die Rechte der Bauern gekämpft hatte, die achtzig Prozent von Russlands Bevölkerung ausmachten. » In Freiheit zu leben, das Land, das man bestellt, zu besitzen – und auch seine eigene Seele –, ist das wichtigste Gut für den Menschen « , sagte er zu seinem Sohn. » In vielen anderen Ländern der Erde gibt es diese Freiheit. Halte dir das immer vor Augen und lass niemals zu, dass jemand anders über dein Leben bestimmt. Frei zu sein ist ein gottgegebenes Recht. «
Tima hatte nicht immer Lust auf die Belehrungen des Vaters, aber er verschlang die Bücher, die dieser besaß. Es dauerte nicht lang, und sein Vater hatte sämtliche Bücher seiner Freunde ausgeliehen, um den Lesedurst seines älteren Sohnes zu stillen. Kolja indes interessierte sich nicht sonderlich fürs Lesen oder Rechnen, noch hatte er ein offenes Ohr für die Reden seines Vaters über die Verhältnisse in ihrem Land. Dafür konnte er stundenlang still vor einem Feuer sitzen, den Kopf leicht zur Seite geneigt, als lauschte er einer Stimme, die außer ihm niemand hören konnte. Schon als kleines Kind summte oder spielte er einfache Melodien mit einem kleinen tibetischen Glockenspiel oder mit Holzklötzen. Von früh an liebte er es, in die Kirche zu gehen, gleich, ob in die seines Vaters oder in den Tempel seiner Mutter. Hochkonzentriert saß er da, wenn der orthodoxe Priester seinen rhythmischen Sprechgesang hören ließ oder die tibetischen Mönche morgens und abends ihre Gongs oder Glocken schlugen, während sie im Takt dazu nickten.
Ula beschützte Kolja in jeder Hinsicht, weder drängte sie ihn zu etwas, noch stellte sie Erwartungen an ihn, wie sie es in Bezug auf Tima tat. Aleksandr fand, dass sie das Kind zu sehr bemutterte, und wünschte insgeheim, sein Jüngster wäre mehr nach Tima geraten, der die Welt um sich herum mit wachen, aufmerksamen Augen wahrnahm und nicht genug Wissen in sich aufsaugen konnte.
Temudschin besaß ein uraltes Akkordeon und spielte gelegentlich für seine Enkel. Als Kolja vier war, nahm er es seinem Großvater aus den Händen und betätigte das Instrument mit einer merkwürdigen Inbrunst, während er mit seinen kleinen Fingern die Tasten drückte. Binnen einer Woche beherrschte er das Akkordeon und entlockte ihm Melodien, die keiner von ihnen je gehört hatte. Es waren nicht die burjatischen Weisen, die seine Mutter mit ihm sang, aber auch nicht die schneidige Marschmusik oder russischen Volkslieder, die sein Vater gelegentlich pfiff. Den Eltern war es ein Rätsel, wie er es so schnell gelernt hatte, aber schließlich kam Aleksandr zu dem Schluss, dass Kolja eine natürliche Begabung für Musik hatte. Mit seinen hart verdienten Kopeken bezahlte er einen der älteren Ex-Offiziere, um seinem Sohn Geigenunterricht zu erteilen. Der alte Mann hatte eine kleine, zierliche Violine und brachte dem jungen Kolja bei, wie man darauf spielte.
» Oh, der Junge hat wahrlich Talent « , sagte der alte Musiklehrer nach nur drei Unterrichtsstunden zu Aleksandr. Nach einem Jahr meinte der Lehrer, es sei sinnlos, wenn sein Freund weiter Geld für Musikunterricht ausgebe. » Ich kann dem Jungen nichts mehr beibringen « , sagte der alte Mann. » Er hat mehr oder weniger über Nacht Noten lesen gelernt. Und sobald er eine Melodie gehört hat, kann er sie perfekt nachspielen. Er komponiert auch eigene Stücke, und gleich, was ich spiele, er kann mühelos mit einstimmen. « Der Musiklehrer fügte hinzu, er habe noch nie eine solche musikalische Begabung erlebt.
Aleksandr kaufte dem alten Mann die kleine Violine ab und schenkte sie Kolja. Der Junge spielte stundenlang jeden Tag, etwas anderes interessierte ihn nicht. Zu seiner Familie sagte er, wenn er spiele, nehme die Welt eine wunderschöne Farbe an: Gold – die Farbe der Blätter, wenn die Herbstsonne hindurchscheint.
Während Kolja die Sprache seiner Violine lernte, wurde Timofei groß und stark. Er verbrachte viel Zeit damit, sich in Kraftspielen mit anderen Jungen aus Tschita zu
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