Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
selbst auf Entdeckungsreise zu gehen und Herausforderungen zu suchen. Das Thema Leibeigenschaft, eine Herzensangelegenheit seines Vaters, interessierte ihn dagegen nicht besonders. Dieser Landstrich, wo sie lebten, war grausam und unnachsichtig wie ein brutaler Lehrmeister. Die abgelegenen Steppen und die Taiga mit ihren langen Wintermonaten boten kaum Chancen auf ein anderes Leben.
» Du hast mich nie gefragt, ob mir diese Arbeit gefällt « , sagte Timofei zu seinem Vater. » Glaubst du, ich gebe mich mit einem Leben zufrieden, bei dem bis zum Ende alles geplant ist? « Tima hasste die zahllosen Splitter, die sich in seine Handfläche gebohrt hatten, den Gestank des Pechs und die hartnäckigen schwarzen Trauerränder unter seinen Fingernägeln, die er davon bekam. » Ich will nicht für immer und ewig Küfer bleiben. « Er wusste, wie dreist er sich anhören musste.
Aleksandr saß schweigend da, während Tima nervös vor ihm auf und ab lief. Schließlich fragte er: » Was würdest du denn gern tun? «
» Ich weiß nicht. Jedenfalls will ich nicht hierbleiben. «
Timofei stellte sich seine Zukunft wesentlich aufregender vor, vielleicht würde er ja nach Irkutsk gehen. Dort war mehr los als in Tschita. Dem Vernehmen nach war es eine prächtige Stadt mit Theater, Museum und einem Stadtgarten, wo an warmen Sommerabenden Orchester spielten, und Fußgängerwege aus Holz säumten die schlammigen Straßen. Obgleich er nie aus Tschita herausgekommen war, wusste Timofei, dass dieser Ort ihm nicht genügen würde.
Als Timofei schließlich erkannte, wie krank sein Vater war und dass man von ihm nicht nur erwartete, die Küferei zu übernehmen, sondern dass er obendrein für den Rest seines Lebens – das sich in Tschita abspielen würde – für seinen jüngeren Bruder verantwortlich sein sollte, zogen dunkle Wolken über sein Gemüt.
Die riesengroße Verantwortung, die man auf seine Schultern laden wollte, beunruhigte ihn zusehends. Seine Gedanken wanderten jetzt weiter als bis nach Irkutsk, in die Welt jenseits von Sibirien – vielleicht könnte er sich in einer der Metropolen Russlands niederlassen. Wenn er der Karte folgen würde, die sein Vater für ihn vorgezeichnet hatte, so schien ihm, würde sein Leben zum Stillstand kommen, noch ehe es richtig begonnen hatte.
Derweil hielt Aleksandr Timofeis rebellische Worte für das aufschneiderische Gerede eines eigensinnigen jungen Mannes. In seinen Augen hatte er seinen Ältesten mit dem nötigen Rüstzeug ausgestattet. Er war sich sicher, dass dieser nun reif genug wäre, die ihm übertragene Rolle zu übernehmen. Seine ganze Sorge galt dem kleinen Kolja.
Den metallischen Geschmack von Blut in der Kehle schickte Aleksandr ein Stoßgebet ums andere gen Himmel, in der Hoffnung, Gott möge ihm ein Zeichen senden, was mit seinem jüngeren Sohn geschehen solle. Sollte man nicht etwas tun, um die musikalische Begabung des Jungen zu fördern? Hatte er nicht etwas Besseres verdient, als den Rest seines Lebens in diesem Provinznest zu verbringen und seiner Geige überirdisch schöne Musik zu entlocken?
Er sprach mit Ula über seine Sorgen, doch diese weigerte sich, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken – dass ihr Mann bald sterben würde. Aber selbst wenn, dann würde sie gewiss noch viele Jahre da sein und sich um das Wohlergehen ihres Jüngsten kümmern können. Die Welt jenseits von Tschita war ihr fast gänzlich unbekannt, und sie interessierte sie auch nicht. Trotzdem begab sie sich, da Aleksandr sie um ihre Gebete bat, zweimal täglich mit ihrer Gebetsmühle in den dazan, wo sie Räucherwerk entzündete, vor den kleinen Stupas-Repliken buddhistische Gesänge erklingen ließ und blaue Gebetsfahnen an die Zweige der Glücksbäume band, die den buddhistischen Tempel säumten.
Dann geschah etwas, worin Aleksandr das ersehnte Zeichen sah – seine orthodoxen Gebete im Verein mit den buddhistischen seiner Frau hatten offenbar Wirkung gezeigt.
SECHSUNDZWANZIG
I m Mai 1842 fanden zum ersten Mal in Tschita mehrere Konzerte eines kleinen Kammerorchesters aus Irkutsk statt. Es sollte an vier Abenden in dem kleinen Rathaus spielen. Aleksandr schickte seine Frau und beiden Söhnen zum ersten Konzert. Als sie zurückkamen, glänzten Koljas Augen vor Glück; er erzählte seinem Vater, er habe noch nie so schöne Musik gehört. Mit seinen acht Jahren sprach er mit der Inbrunst und Leidenschaft eines Erwachsenen.
Dann packte Kolja seine Violine aus und spielte mit geschlossenen Augen
Weitere Kostenlose Bücher