Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
wollte keine Zeit verlieren, wo er doch wusste, worauf der andere hinauswollte.
» Ich möchte, dass er das Beste aus seinem Talent macht « , erwiderte Aleksandr. Es fiel ihm zusehends schwer, den Husten zu unterdrücken, und er hatte bereits drei Taschentücher verbraucht – sobald eins durchtränkt war, hatte er es heimlich im Schoß zusammengefaltet und weggesteckt, damit sein Gast das Blut nicht sähe. » Er wünscht sich nichts anderes, als zu spielen, und seine Begabung sagt mir, dass er genau dazu geboren wurde. Sie werden mit ihm einen aufmerksamen, gehorsamen Schüler bekommen. Wenn Sie ihn unter Ihre Fittiche nehmen, vielleicht … nun, ich erwarte nicht, dass er es bis nach Moskau oder Sankt Petersburg schaffen wird. Aber in Irkutsk wird er gewiss die Anerkennung bekommen, die er verdient, und sich ein bescheidenes Leben dort aufbauen können. So wie Sie. «
Der Dirigent sah ihn auf eine Weise an, die Aleksandr nicht zu deuten wusste.
Aber er hatte es eilig, sein Anliegen zu Ende zu bringen: » Sollte er in Tschita bleiben, würde er dazu verdammt sein, nur für sich zu Hause zu spielen oder vielleicht hin und wieder einmal auf einer Hochzeit. Ich will, dass er die Gelegenheit hat, mehr aus sich zu machen. « Aleksandrs Gesicht verzerrte sich, und er wurde von einem schlimmen Hustenanfall geschüttelt.
Der Dirigent fischte sein eigenes Taschentuch aus der Jackentasche und hielt es sich schützend vor Nase und Mund. Ula eilte aus der Küche herbei und beugte sich besorgt über ihren Mann. Dabei hielt sie sich die Faust an den Mund, als kämpfte sie ebenfalls mit dem Husten. Mit der anderen Hand tätschelte sie ihm die Schulter und murmelte: » Sascha, Sascha. «
Als der Hustenanfall vorbei war, kehrte sie in die Küche zurück. Der Dirigent sagte: » Ich verstehe. Aber er ist wirklich noch sehr jung, und wir müssen uns im Klaren darüber sein, was das heiß, ihn von seiner Mutter zu trennen … wie wird er damit zurechtkommen? Und die Reise nach Irkutsk ist eine Strapaze – glauben Sie, Ihr Sohn wird das schaffen? «
Andererseits sah der Dirigent bereits das Geld vor sich, das er aus einem Kind mit diesem Talent herausschlagen könnte. Binnen weniger Jahre würde er den Jungen zu einem stolzen Preis an einen Grundbesitzer in einer der westlichen Provinzen verkaufen können, als Geiger in einem Leibeigenenorchester. Diese wohlhabenden Adeligen wetteiferten darin, die besten Musiker ihr Eigen zu nennen, um vor ihren Gästen mit ihnen glänzen zu können.
Aleksandr hatte seine Frage noch immer nicht beantwortet.
» In zwei Tagen verlassen wir Tschita « , fuhr der Dirigent zögerlich fort. » Wird der Junge dann so weit sein, um mit uns zu reisen? «
Aleksandrs Gesicht glänzte vor Schweiß. Er konnte sich nicht vorstellen, Kolja seiner Mutter und seinem Zuhause zu entreißen und in die Obhut eines Fremden zu geben. » Ja, das wird er « , erwiderte er, gegen seine Gefühle ankämpfend. » Und ich weiß, dass er die Reise übersteht. Er ist ein widerstandsfähiger Junge. « Es war eine glatte Lüge, Kolja als widerstandsfähig zu bezeichnen, aber er tat es in dem verzweifelten Bestreben, das Beste für seinen Jungen herbeizuführen.
Ula kam mit dem Samowar herein. Als sie ihn in die Mitte des Tischs stellte und sich umdrehte, um in die Küche zurückzugehen, fragte der Dirigent sie: » Wie heißt der Junge doch gleich? «
» Timofei Aleksandrowitsch « , antwortete sie. » Er ist fünfzehn und, wie Sie gesehen haben, schon ein kräftiger junger Mann. «
» Nein, der andere. «
» Oh. Mein Kleiner heißt Nikolai Aleksandrowitsch, mein Baby. Kolja. « Sie lächelte stolz. Aleksandr schloss die Augen, der Gedanke, was er ihr antun würde, war ihm unerträglich. Ihnen allen antun würde.
Es ist das Beste, sagte er zu sich selbst und griff nach der Wodkaflasche. Er wusste nicht, dass sein Taschentuch auf dem Kinn Blutflecken hinterlassen hatte.
Nachdem der Dirigent gegangen war, überlegte Aleksandr fieberhaft, wie er Ula von seinem Plan bezüglich Kolja erzählen sollte. Wie er ihr begreiflich machen konnte, dass er es für die Zukunft des Kindes tat. Dass sie ihn in Irkutsk besuchen könnte: Timofei würde jeden Sommer mit ihr dorthin reisen.
Als Ula mitten in der Nacht aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer kam, wo er seit einiger Zeit auf der gepolsterten Bank schlief, damit er ihr nicht ins Gesicht hustete, saß er aufrecht da. Im Schein der Kerze, die sie in der Hand hielt, sah er den
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