Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
einige der Melodien nach, die er kurz zuvor vernommen hatte. Während er mit dem Bogen über die Saiten strich, wiegte er den Oberkörper, als wäre er von einem Geist besessen. Bei seinem Anblick war Aleksandr überwältigt von der außergewöhnlichen Tiefe seiner Musik, die ihn gleichzeitig mit großer Sorge erfüllte: Was sollte aus seinem Sohn nur an einem Ort wie Tschita werden?
Nachdem Ula und seine Söhne ins Bett gegangen waren, schrieb Aleksandr einen Brief. Am nächsten Morgen gab er ihn Timofei, damit dieser ihn dem Dirigenten des Orchesters brächte. Es war eine Einladung zum Abendessen. Aleksandr hatte seinen früheren Titel benutzt: Er, Oberst Aleksandr Danilowitsch Kasakow, schrieb er, wisse, welch lange Reise der Maestro und sein Orchester auf sich genommen hätten, um diesen Ort mit ihrem Besuch zu erfreuen, und es wäre ihm eine Ehre, ihn ein wenig mit bester russischer Gastfreundschaft zu entschädigen.
Aleksandr wusste natürlich, dass dem Dirigenten auf Anhieb klar sein würde, dass es sich bei einem ehemaligen hochrangigen Mitglied der russischen Armee, das es an diesen abgelegenen Flecken verschlagen hatte, um einen politischen Verbannten handeln musste, hoffte jedoch, dass er sich nicht davon abschrecken ließe. Zu Aleksandrs Glück, auch wenn dieser nichts davon wusste, befand sich der Dirigent in einer misslichen Lage: Er hatte einen Berg Schulden angehäuft, und seine Auftritte in Irkutsk reichten bei Weitem nicht, um sie abzubezahlen. In seiner Notlage reiste er schon seit einigen Monaten durch Ostsibirien und trat mit seinem Orchester in kleinen Städten und Dörfern auf. Er verabscheute das beschwerliche Reisen, das musikalisch ungebildete Publikum und die lächerlichen Honorare, die er für seine Darbietung erhielt. Und so fühlte er sich geschmeichelt, von einem ehemaligen russischen Leutnant in dessen Haus eingeladen zu werden. Es war ihm gleich, was dieser polkownik in seinem früheren Leben getan hatte. Ihn interessierte nur, dass er auf eine gute Mahlzeit hoffen durfte; außerdem wäre es eine Wohltat, wenigstens für einen Abend den feuchten Räumen über dem Rathaus zu entkommen, wo er und seine Musiker einquartiert waren.
Er schrieb zurück, er nehme die Einladung sehr gern an, und reichte den Antwortbrief dem jungen Mann, der solange geduldig gewartet hatte.
Als der Dirigent am nächsten Abend eintraf, erhob sich Aleksandr vorsichtig, um den Gast zu begrüßen. Die kleinste Anstrengung rief einen Hustenanfall hervor, und das wollte er unbedingt vermeiden. Stolz nahm er die Komplimente des Dirigenten über das hübsche Haus und die Wohlgerüche des Mahls entgegen, das seine Frau vorbereitet hatte. Aleksandr bat den Gast, ihn beim Vornamen zu nennen – sagen Sie doch bitte Sascha zu mir –, um sogleich eine freundschaftliche Atmosphäre zu schaffen.
Ula war eine ausgezeichnete Köchin, und das üppige, köstliche Essen in Verbindung mit dem besten Wodka, den es in Tschita gab, sorgte dafür, dass der Gesprächsfaden nie abriss. Als Ula den Tisch abgeräumt hatte, bat Aleksandr Kolja, dem Gast etwas vorzuspielen.
» Was soll ich spielen, Papa? « , fragte der Junge, während er seine Violine auspackte.
» Eine deiner eigenen Kompositionen, Kolja. « Aleksandr sah den Dirigenten verstohlen von der Seite an.
Als der Junge endete, nickte der Dirigent feierlich. Aleksandr schickte Kolja in sein Zimmer, um sein Instrument zu verstauen. Zu Tima sagte er, er könne jetzt hinausgehen und seine Freunde treffen. Seine Frau bat er, in der Küche den Samowar vorzubereiten und ihnen Tee und Kuchen zu bringen.
» Nun? « , fragte Aleksandr. » Was meinen Sie? «
Der Dirigent nickte abermals und musterte Aleksandrs fahles, ausgemergeltes Gesicht. Ihm entging nicht, wie sein Gastgeber versuchte, seinen tiefen, feuchten Husten mit einem Taschentuch zu dämpfen. Für ihn stand fest, dass die Schwindsucht ihn noch vor Ende des Monats dahinraffen würde. » Er ist außergewöhnlich begabt. «
» Ich schlage Ihnen ein Geschäft vor « , sagte Aleksandr, worauf der Dirigent ein drittes Mal nickte. Er wusste, dass es ein gutes Geschäft sein würde. » Ich wünsche, dass mein Sohn glücklich wird. Hier in Tschita hat einer mit seinem Talent kaum Möglichkeiten. Ich weiß, er ist noch ein Kind – er ist erst acht –, aber ist es nicht gut, so früh wie möglich mit der Ausbildung zu beginnen? «
» Möchten Sie, dass ich Ihren Sohn nach Irkutsk mitnehme? « , fragte der Dirigent. Er
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