Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
ist kühl an diesem frühen Abend. » Ja. Eine neue Zeit hat begonnen, Grischa. Grigori … « Sie hält inne. » Wie lautet eigentlich dein Vatername? « Die Erinnerung daran, wie er sie gebeten hat, ihn Tima zu nennen, blitzt in ihr auf. Aber es ist jetzt nicht der richtige Moment, um ihn nach dem Grund zu fragen. Nein, denkt sie dann, den richtigen Moment dafür wird es nie geben. Sie wird es nie erfahren und kann es sich auch nicht erlauben, darüber nachzudenken.
» Sergejewitsch. «
» Ja, ein neues Zeitalter ist angebrochen, Grigori Sergejewitsch. « Wenn sie schon so völlig auf ihn angewiesen ist, sollte sie sich besser angewöhnen, ihn bei seinem vollen Namen anzureden, anstatt wie einen Dienstboten bei der Kurzform seines Vornamens. Es sind neue Zeiten angebrochen, in der Tat.
Als der Stall in Sicht kommt, versucht Antonina, das Bild des aufgeschlitzten Pferdes zu verdrängen, das sich in ihr Bewusstsein drängt, und des blutverschmierten Holzbretts mit dem spiegelverkehrten h darauf. Unwillkürlich muss sie an Michail denken.
» Ich bin erschüttert über das, was mit Felja passiert ist. Kann es sein, dass wer immer das getan hat, auch bei Michails Entführung eine Rolle spielt? «
Was soll er ihr antworten? » Überall im Land treibt sich gefährliches Gesindel herum. «
» Glaubst du, ich bin hier, in meinem Haus, in Gefahr? « , fragt Antonina.
» Ich stehe Ihnen zu Diensten, Gräfin Mitlowskaja « , sagt er, indem er sie wieder mit ihrem Titel anspricht. Er dreht sich zu ihr, sieht sie an. » Solange ich da bin, sind Sie sicher. Es wird Ihnen nichts geschehen. « Bei diesen Worten erscheint der gleiche weiche Ausdruck auf seinem Gesicht, wie als sie sich im Bett ansahen.
Weil er ihr so nah ist und sie so ansieht, kann sie kaum atmen. Solange ich da bin, sind Sie sicher. Hat er ihr nicht genau dieses Gefühl auch in der Datscha gegeben? Ist sie deswegen schwach geworden – weil sie sich zum ersten Mal seit Langem wieder sicher fühlte?
» Danke « , sagt sie und macht das Kreuzzeichen vor ihm. Es ist eine unwillkürliche Geste, mit der bis vor Kurzem ein Grundbesitzer seine Untergebenen segnete. Doch noch während sie das Zeichen in die Luft malt, wird ihr bewusst, dass sie am liebsten mit den Fingern seine Stirn berühren und über seine gebräunte Haut bis zu den Schläfen streichen würde und dann weiter über seinen Wangenknochen bis zu seinem Mund.
Sie lässt die Hand wieder sinken, und Grischa deutet eine kurze Verbeugung an. » Ihnen ist kalt. Ich bringe Sie zum Haus zurück. «
Er geleitet sie zu den Verandastufen und lässt sie dort stehen. Sie bemerkt, dass einer der Fensterläden an der Hausfassade schief hängt, weil ein Scharnier fehlt.
DREISSIG
B ei Tagesanbruch klopft Pawel leise an Antoninas Zimmertür. Als sie nicht antwortet, öffnet er zögernd die Tür. » Gräfin Mitlowskaja « , ruft er. » Bitte, kommen Sie ins Zimmer des Grafen. «
» Ja « , antwortet sie schläfrig und setzt sich auf. Als sie in den Flur tritt, entdeckt sie Lilja, die von ihrem behelfsmäßigen Lager aufsteht. Als Antonina am Abend zuvor von ihrem Gespräch mit Grischa zurückkam, schickte sie sie weg, da sie allein sein wollte mit ihren Gedanken.
Sie hatte angenommen, dass sie in ihr eigenes Zimmer im Dienstbotenquartier zurückkehren würde.
Schon als sie über die Schwelle zu Konstantins Zimmer tritt, erkennt sie, dass es ihm schlechter geht. Seine Haut ist feucht und klamm, seine Lippen und Nagelbette sind blau. Er hat Mühe zu atmen. Pawel muss nach Pater Kirill geschickt haben; der Geistliche sitzt auf einem niedrigen Stuhl neben dem Bett und betet. Seine leisen Beschwörungsformeln hören sich wie das Summen einer Fliege in Antoninas Ohren an, und sein langes schwarzes Priestergewand und die kamilawka, die dazugehörige hohe Kopfbedeckung, kommen ihr seltsam ausländisch vor.
Nach einer Weile steht Pater Kirill auf und spricht leise mit Olga, die nickt und in Tränen ausbricht. Antonina verfolgt, wie sie einen kleinen Tisch heranrückt und ein weißes Tuch darüber breitet. Pater Kirill stellt ein Kruzifix, zwei Kerzen, eine Flasche und einen kleinen, umwickelten Gegenstand darauf. Olga wird von Schluchzen geschüttelt, sie bedeckt sich das Gesicht mit ihrem Schal und wiegt den Oberkörper vor und zurück.
Der Priester ist jetzt bereit für die Krankensalbung, sollte Konstantin darum bitten, seine Beichte abzulegen. Alle bereiten sich auf den Tod ihres Mannes vor.
Draußen graut der
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