Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
zersägen.
In einer Ecke des Vestibüls schläft die alte Olga, in eine dicke Decke gewickelt und mit dem Kinn auf der Brust, in einem Stuhl mit hoher Rückenlehne. Aufgeweckt von Grischas Schritten, hebt sie den Kopf, blinzelt verwirrt und beobachtet, wie er die Treppe hinaufgeht. Nuscha, die als Einzige der jungen Dienstmädchen noch auf Angelkow geblieben ist, kniet auf der Treppe und bürstet mit einem Handbesen den Teppich. Als Grischa zwei Stufen auf einmal nehmend hinaufläuft, weicht sie erschrocken zur Seite aus.
Lilja folgt ihm.
Vor Antoninas Schlafzimmertür bleibt er stehen. » Gnädige Frau! « , ruft er und klopft an. » Gräfin, ich bin’s, Grischa. Darf ich hereinkommen? «
Er dreht den gläsernen Türknauf und öffnet die Tür. » Gnädige Frau? « , sagt er argwöhnisch. Doch als er den Raum betritt, bemerkt er, dass es dort genauso kalt wie in allen anderen Zimmern ist: Die Vorhänge sind zugezogen, das Kaminfeuer seit Längerem erloschen. Er dreht sich zu Lilja um.
» Wo ist sie? Sag mir, wo sie ist. « Er baut sich vor Lilja auf.
Lilja weicht keinen Millimeter zurück. Trotzig und ohne zu blinzeln, hält sie seinem Blick stand. » Die Gräfin ist weggegangen, Grischa « , sagt sie ruhig. » Sie ist nicht da. «
» Was meinst du damit? Wohin ist sie gegangen? «
Während ein besorgter, hektischer Ausdruck auf Grischas Gesicht erscheint, wirkt Lilja ganz ruhig, ja, seltsam heiter und gelassen. » Sie hat sich von Ljoscha in die Stadt fahren lassen, wo sie eine Kutsche mieten will. « Sie ist wütend auf Ljoscha, weil er sich über Antoninas Aufenthaltsort ausschweigt. Die Tatsache, dass er sich mit Antonina verbündet hat statt mit ihr, hat den Graben zwischen ihnen noch vertieft. Der furchtbare Zwischenfall in Grischas Haus steht wie ein riesiger Wall zwischen ihnen. Ihre Gedanken rasen, aber ihre Worte sind wohlbedacht. » Sie ist nach Sankt Petersburg gefahren « , sagt sie und wird prompt belohnt, als sie sieht, wie sich Grischas Pupillen weiten und Röte sein Gesicht überzieht.
» Nach Sankt Petersburg? «
Lilja hat jetzt die Oberhand. Es ist ihr gelungen, Walentin aus Antoninas Leben zu entfernen, und jetzt wird sie das Gleiche mit Grischa machen.
» Ja, nach Sankt Petersburg. Sie hat gesagt, es gibt im Moment keinen Grund mehr für sie, auf Angelkow zu bleiben. Sie weiß nicht, was sie hier noch soll, hat sie zu mir gesagt. «
Lilja macht dieses kleine Spiel Spaß, sie ergötzt sich an Grischas gepeinigter Miene. Ihr Alltag ohne Antonina ist trist und öde.
SIEBENUNDDREISSIG
D er Schnee fällt in dicken Flocken. Ein eisigkalter Wind ist aufgezogen, noch kälter als am Vortag.
Ljoscha muss immerzu an Antonina denken, die allein in der Datscha ist. Die Kälte wird sie dazu zwingen, kräftig einzuheizen. Wenn es so weitergeht, ist das Brennholz im Nu aufgebraucht. Um elf Uhr vormittags begibt er sich in den Stall und versinkt bis zu den Knien im Schnee. Er sattelt den Araber und reitet die Auffahrt hinunter in Richtung Landstraße. Eigentlich ließe es dieses Wetter angeraten sein, die Orlow-Traber vor die Troika zu spannen – diese Pferde sind eigens dafür gezüchtet, einen Schlitten bei hoher Geschwindigkeit durch den Schnee zu ziehen. Aber da die drei Pferde nebeneinander eingespannt werden, sind sie auf der Landstraße zwar unschlagbar, könnten jedoch unmöglich dem schmalen Pfad folgen, der sich zwischen den Bäumen hindurch bis zur Datscha schlängelt. Also hat Ljoscha beschlossen, Antonina auf seinem Pferd mit nach Hause zu nehmen, wenn sie es denn zulässt. Wenn nicht, wird er weiteres Brennholz für sie hacken. Vielleicht wird er zu ihrer Sicherheit sogar in der Datscha übernachten.
Als er die Wegabzweigung zur Datscha erreicht, herrscht so dichtes Schneetreiben, dass er die Hand nicht mehr vor dem Gesicht sieht. Er weiß, dass mindestens noch ein halbstündiger Ritt vor ihm liegt. Sein Pferd hat Mühe, sich durch den hohen Schnee zu kämpfen. Nervös hebt es die Hufe, um eine Schneewehe zu überwinden, dann scheut es und wiehert. Gleich, wie Ljoscha es vorwärtsdrängt, das Pferd sträubt sich. Er friert erbärmlich und spürt seine Hände, die die Zügel halten, kaum noch. Er hat die uschanka tief in die Stirn gezogen und die untere Gesichtshälfte mit einem dicken Schal umwickelt. Aber seine Wimpern sind mit Eis überzogen, und der schräg fallende, stechende Schnee brennt ihm in den Augen.
Schließlich wendet er das Pferd. Mühsam folgt es der Spur zurück,
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