Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
sie ist. «
Lilja zuckt die Achseln. » Was macht das schon für einen Unterschied? Ich hab halt angenommen, dass sie nach Sankt Petersburg wollte. «
Grischa schüttelt verärgert den Kopf. » Dann ist sie also dort … wann hast du sie zu dieser Datscha gebracht, Ljoscha? «
» Gestern Vormittag nach … « Ljoscha hält inne – plötzlich sieht er den toten Musiker wieder vor sich. Es gelingt ihm einfach nicht, dieses Bild zu verdrängen, ebenso wenig wie das seiner Schwester, wie sie mit blutigen Händen in der Tür steht. » Ich wollte zu ihr reiten, weil ich Angst hab, dass das Brennholz nicht reicht. «
» Wie lange will sie dort bleiben? «
» Ungefähr drei, vier Tage, hat sie gesagt. Aber wer hätte geahnt, dass es so einen Schneesturm geben würde? Ich weiß nicht einmal, ob sie genug Petroleum für die Lampen hat. Ich hab sie nicht gern allein gelassen, das kannst du mir glauben, Grischa, aber sie hat darauf bestanden. « Er bedeckt sich mit der Hand die Augen.
» Ich reite zu ihr « , sagt Grischa.
» Aber es ist schon dunkel, du kannst es unmöglich schaffen « , murmelt Ljoscha.
Grischa weiß selbst, dass er bis zum nächsten Morgen wird warten müssen.
In der warmen, hellen Küche, wo eine köstlich duftende Suppe auf dem Herd köchelt, denken alle an Gräfin Mitlowskaja, die allein in einer kalten, dunklen Datscha mitten im Wald gefangen ist. » Im Wald gibt es Wölfe « , sagt Nuscha.
Um Mitternacht herum legt sich der Sturm, und sobald der Morgen mit einem ersten schwachen Schimmern heraufdämmert, macht sich Grischa auf den Weg. Der Schnee glitzert in der aufgehenden Sonne. Das Pferd müht sich schwer ab; es ist ein beschwerlicher Ritt durch hohen Schnee und eisige Kälte.
Als Grischa die Datscha erreicht, steigt kein Rauch aus dem Kamin, und im Schnee um das Haus herum erkennt er eine Vielzahl von Wolfsspuren. Er schaufelt den Schnee vor der Haustür weg, um sie öffnen zu können. Als er endlich die Datscha betritt, liegt Antonina vor dem erkalteten Kamin, in dem statt eines Feuers nur ein großer Aschehaufen zu sehen ist. Sie hat sich mit mehreren Decken und einem zerschlissenen Bärenfell zugedeckt, das, wie er weiß, an die Wand der rückwärtigen Veranda genagelt war. Wie Ljoscha befürchtete, ist der Holzvorrat aufgebraucht, und drinnen fühlt es sich kälter an als draußen. Da sie mit dem Rücken zu ihm liegt, kann er Antoninas Gesicht nicht erkennen, aber ihr Atem bildet kleine Wölkchen in der eiskalten Luft.
Er schließt leise die Tür und geht in den Schuppen, um einen Armvoll Holz zu hacken und Anzündholz zu spalten. Als er wieder ins Haus kommt, setzt sich Antonina auf. Sie fasst sich an den Hals. Er sieht getrocknetes Blut an einem ihrer Finger.
» Grischa, bist du tatsächlich gekommen? « , ruft sie schluchzend aus. » Ich habe gehört, wie jemand Holz hackt. Mir ist so kalt, Grischa, und ich hatte Angst. Die Wölfe … sie haben die ganze Nacht geheult und an den Wänden gekratzt. «
Als Grischa ihr blasses, ausgemergeltes Gesicht sieht, durchfährt ihn ein Schrecken. Sie hat dunkle Ringe unter den Augen, und ihre Lippen sind aufgesprungen.
» Sind die Wölfe weg? « , fragt sie, und er nickt. Dann tritt er über sie hinweg zum Kamin und legt die Holzscheite ab. Er kniet sich davor und schaufelt die kalte Asche beiseite.
Er sieht sie über die Schulter an. » Geht es dir gut, Antonina? « Natürlich geht es ihr nicht gut, das kann er ja sehen. Nicht nur wegen der Kälte und Angst. Noch etwas anderes setzt ihr offenbar zu.
Sie klappert mit den Zähnen. » Hat Ljoscha dir gesagt, dass ich hier bin? «
Wieder nickt Grischa, dann wendet er sich erneut zum Kamin, um ein Feuer zu entfachen. Als das Anzündholz brennt, setzt er sich auf die Fersen zurück und verfolgt, wie die Flammen zögerlich das feuchte Holz umzüngeln. » Er hat gestern versucht, zu dir zu gelangen, aber der Schneesturm hat ihn gezwungen umzukehren. «
» Und nun bist du gekommen « , sagt Antonina. In seinem dunklen Haar sitzen Schneekristalle, die wie kleine schmelzende Edelsteine aussehen. Auch seine breiten Schultern sind schneebedeckt.
» Du bist krank, Antonina « , sagt er, während er sich wieder zu ihr umdreht. » Was hast du? « Ihre Lippen sind aufgerissen, als hätte sie sie absichtlich zerbissen.
Wie soll sie es sagen, ohne sich vor ihm vollkommen bloßzustellen? Aber es gibt keine andere Möglichkeit, als die nackte Wahrheit zu sagen. » Ich bin hier, um Buße zu tun, Grischa,
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