Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
nach Hause reiten. Und nimm Dunja mit. Ich will nicht, dass sie allein in dem eiskalten Stall steht. Aber bitte, denke daran, dass ich niemanden hier sehen möchte. Hast du mich verstanden? Niemanden. «
Ljoscha weiß genau, wie wütend seine Schwester ist, weil sich die Gräfin weigerte, ihr zu sagen, wohin sie wollte. Er konnte es Lilja vom Gesicht ablesen, als sie ihr von der Veranda aus nachsah.
Ljoscha ist erschöpft und krank vor Sorge. Er muss unaufhörlich daran denken, was Lilja am Vortag getan hat und wie Grischa und er in aller Heimlichkeit den armen Mann begraben mussten. Aber an diesem Morgen schien Lilja wieder ganz die Alte, als wäre nichts geschehen. Wie konnte sie nur diesen Mann umbringen – diesen feinen Musiker –, noch dazu auf so kaltblütige Weise, um einen Tag später schon wieder ganz ruhig und gefasst zu wirken? Und was hat ihr Geschwätz von Soso und Michail Konstantinowitsch zu bedeuten?
» Es tut mir leid, dass ich dich darum bitten muss, Ljoscha « , sagt Antonina. » Aber es ist wirklich sehr wichtig, dass du dieses Geheimnis für dich behältst. Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann. «
» Ja, gnädige Frau « , erwidert Ljoscha. » Wann soll ich Sie wieder abholen? «
» Die Lebensmittel reichen mindestens für drei Tage. «
Ljoscha tippt sich mit der Hand an die Kappe und sitzt auf. Antonina beobachtet vom Fenster aus, wie er wegreitet und Dunja am Zügel über den schmalen Waldpfad mitführt.
Dann blickt sie sich in der Datscha um, ruft sich ins Gedächtnis, wie es war, als sie mit Grischa hier übernachtete. Sie geht den Flur entlang zum Schlafzimmer. Das Bettzeug ist noch immer zerwühlt; niemand war seither mehr hier. Sie legt sich aufs Bett, dreht das Gesicht in das kalte Laken. Es riecht entfernt nach Leder und ihrem eigenen Duft. Sie zieht die Bettdecke über sich und entdeckt neben sich auf der Matratze die bestickte Weste, die Grischa trug, als sie zusammen waren. Sie zeichnet mit den Fingerspitzen die Stickerei nach. Nein, sagt sie sich, Grischa hat gewiss nichts mit Walentins Tod zu tun. Grischa doch nicht. Lilja verbreitet mal wieder Gerüchte, wie so oft in letzter Zeit. Nein, nicht Grischa. Sie denkt an die vielen Gelegenheiten in all den Jahren, bei denen sich Grischa freundlich und hilfsbereit zeigte: zu Mischa, zu Ljoscha, zu vielen der Leibeigenen. Sie weiß, dass er im Gegensatz zu seinem Vorgänger nie die Knute benutzt hat, wenn es darum ging, einen Leibeigenen zu bestrafen. Die Bediensteten haben ihr es immer wieder bestätigt. Die Leute hüteten sich, es Konstantin zu erzählen, aber sie weiß es. Sogar Mischa wusste es. Einmal sagte er zu ihr, wie froh er sei, dass Grischa nicht so grausam zu den Stalljungen sei wie der Verwalter eines anderen Guts, das sie besucht hatten.
Sie erinnert sich, wie Grischa sie auf diesem Bett nahm. Nicht eine Sekunde vergaß er, Rücksicht auf ihre verletzte Nase zu nehmen, während er seinen Mund sanft und doch fest auf ihre Lippen presste. Walentin hielt sie wie ein niedliches Schoßtier in den Armen, und sein einziger kurzer Kuss … es war, als würde sie etwas Süßes, Angenehmes schmecken, etwas, was nur flüchtig die Zunge berührt wie Sommereiskreme. Grischas Mund hingegen fühlte sich kraftvoll und beständig an.
Sie hat sich eingeredet, dass sie es mit Grischa nie wieder zu einem Kuss oder einer Berührung kommen lassen wird. Doch in diesem Moment wünscht sie sich nichts sehnlicher, als seine Schritte auf den hölzernen Verandastufen zu hören. Sie will, dass er ohne anzuklopfen die Tür aufreißt, zielstrebig den Flur durchmisst, sich zu ihr legt und sie so fest an sich drückt, dass sie, wenigstens für eine Stunde, ihre Angst um Michail, ihre Trauer um Walentin und ihre Sorgen um das Gut vergessen kann. Und um ihre Zukunft. Damit sie sich endlich nicht mehr nach einem Glas Wodka sehnen, nicht mehr das Gefühl haben muss, ohne den Alkohol keinen Schritt und keinen Atemzug mehr tun zu können. Mit Grischa wäre sie in der Lage zu vergessen und völlig in dem Moment aufzugehen, da er sie in Besitz nimmt.
Nein, sagt sie sich, sie muss endlich diesen törichten Gedanken Einhalt gebieten. Sie geht ins Wohnzimmer zurück, wo es schön warm ist. Sie nimmt Mischas Nachricht aus ihrer Reisetasche, die er auf die Rückseite eines Blattes mit den von ihr transponierten Noten eines Glinka-Stücks geschrieben hat, sowie die anderen beiden Blätter, die sie im Futteral seines Mantels fand. Alle drei Nachrichten hat
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