Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
kaltem Schweiß überzieht. Sie hat schon die ganze Küche auseinandergenommen auf der Suche nach der Flasche Wodka, die sie bei ihrem letzten Besuch in der Datscha mit Grischa trank. Als sie sie gefunden hat – freilich leer –, hat sie vor Wut aufgeschrien und sie an den Herd geschleudert, wo sie in tausend Stücke zerschellte. Verzweifelt hat sie sich auf Hände und Füße sinken lassen. Dabei hat sich eine Glasscherbe in ihren Finger gebohrt. Sie hat sie herausgezogen und an der Wunde gesaugt, und nun liegt sie auf dem kalten Küchenboden und will weinen, aber selbst das gelingt ihr nicht.
Am nächsten Morgen begibt sich Grischa wie angekündigt ins Gutshaus. Raisa und Pawel sind mit irgendwelchen Arbeiten beschäftigt. Er bittet Pawel, Lilja zu holen.
» Wie fühlt sie sich heute? « , fragt er, als Lilja die Küche betritt.
Lilja übergeht seine Frage. » Du hast die Tür offen gelassen. Mach sie zu. Es ist kalt, und schau mal, es schneit sogar. « Sie verschränkt die Arme vor der Brust, reibt mit den Händen über die Oberarme und tritt näher an den Herd.
Grischa schließt die Tür. In der Nacht hat es zu schneien angefangen, zuerst ganz leicht, aber dann ist Wind aufgekommen, und jetzt fallen schwere, nasse Flocken so schnell vom Himmel, dass Grischas Fußstapfen, die zur Küchentür führen, fast schon wieder zugedeckt sind. Es ist erst Anfang November, doch der Winter scheint früher als sonst seine eisigen Fühler auszustrecken.
Als er sich wieder von der Tür wegdreht, bemerkt er, dass Lilja eines von Antoninas Kleidern trägt, und ein unangenehmes Gefühl durchzuckt ihn.
Raisa rührt Gerstengrütze in einem Topf, und Pawel poliert am Tisch Silber: ein Rechaud, einen Kerzenleuchter und Fischmesser.
Grischa erkennt das Nachmittagskleid wieder: Es ist aus einem cremefarbenen weichen Stoff und hat einen taillenbetonten Schnitt. Antonina trug es, als er sie zuletzt sah, als sie zu ihm ins Haus kam und mit ihm über Walentin sprach. Das Kleid unterstreicht Antoninas durchscheinenden Teint. Lilja hingegen macht es blass. Es ist ihr zu eng, die Rockfalten werden über ihren Hüften auseinandergezogen. Kurz und gut, das Kleid passt ihr nicht, Lilja hat nicht Antoninas Figur. Außerdem fällt ihm auf, dass sie auch Raisas Schlüsselbund – den Schlüsselbund der Haushälterin – an einem breiten Ledergürtel trägt, der viel zu mächtig ist für das feine Kleid. » Hat dir die Gräfin erlaubt, ihre Kleider zu tragen? «
Lilja sieht ihn wütend an. » Es geht dich nichts an, was ich anziehe. « Sie hat zwei große Kleckse Rouge auf den Wangen, und ein Schildpattkamm steckt unbeholfen in ihrem Haar.
» Ich will mit ihr sprechen, nachdem es mir gestern nicht möglich war. «
» Das geht nicht « , entgegnet Lilja.
Grischa mustert Lilja noch immer. Sie ist etwas kleiner als Antonina und trägt flache Stiefel, während Antonina im Haus immer elegante Pantoffeln mit Absätzen trägt. Kein Wunder, dass bei Lilja der Saum des Kleids über den Boden schleift, sodass sich Staubflocken und Schmutz daran verfangen. Das Rouge hebt sich grotesk auf ihrem blassen Gesicht ab. » Ist sie krank? « , fragt er. » Ist das der Grund, warum ich nicht zu ihr kann? Raisa, ist die Gräfin krank und will deswegen niemand sehen? Wenn das so ist, lasse ich den Arzt kommen. «
Raisa runzelt die Stirn, will etwas sagen, aber Lilja kommt ihr zuvor: » Sie ist nicht krank. «
Grischa mag sich nicht vorstellen, dass Antonina schon am frühen Morgen betrunken ist. » Dann gehe ich jetzt zu ihr, ob es dir passt oder nicht « , sagt er und durchquert raschen Schritts die Küche.
» Nein! « , schreit Lilja und rennt zur Tür, die auf den Flur führt.
Grischa schiebt Liljas ausgestreckten Arm weg. Er geht durch den Flur, und seine energischen Schritte in den nassen Stiefeln hallen auf dem Parkettboden wider.
Im Erdgeschoss sind alle Türen geschlossen. Er öffnet eine nach der anderen, sucht überall nach Antonina, im Esszimmer, im Salon, in der Bibliothek, dem Arbeitszimmer, dem Musiksalon. In jedem Raum ist es düster, die Vorhänge sind zugezogen, um die Zugluft, die durch die Fensterritzen dringt, fernzuhalten, da weder Öfen noch Kamine angeheizt sind. Die Luft in den Räumen ist kalt und trocken. Die einst riesigen Stöße von Brennholz vor dem Haus sind sichtbar geschrumpft, sodass nur wenige Räume beheizt werden. Obwohl Angelkow von Wäldern umgeben ist, fehlt es an Männern, die die Bäume fällen und zu Brennholz
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