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Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Holeman
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als er, einen Plan aus. Er war jetzt neun Monate im Lager und wusste, dass er bald fliehen musste, weil er andernfalls zu schwach dafür sein würde. Die drei Männer warteten auf günstige Bedingungen: eine mondlose, laue Nacht, in der sich die Wärter vor ihrer Hütte betranken und miteinander in Streit gerieten. Zuerst töteten sie einen der Wärter, dann einen zweiten, ehe sie durch die Dunkelheit in den dichten Wald rannten. Wer von ihnen den Männern die stopplige Kehle durchschnitten hatte mit dem Messer, das sie aus einer zerbrochenen Säge geformt hatten, sollte ihr Geheimnis bleiben: Sie waren alle gleichermaßen schuldig. Als sie sich drei Tagesmärsche vom Lager entfernt hatten, trennten sie sich, wollten sie doch gegenseitig nicht länger daran erinnert werden, was sie getan hatten.
    Grischa wanderte, den Sack geschultert, in Richtung Westen. Die restliche Strecke seines Weges durch Sibirien bewältigte er zu Fuß, hin und wieder ließ er sich auch von einem Ochsen- oder Pferdekarren mitnehmen. Wann immer sich ihm die Gelegenheit bot, stahl er in jenem Frühling und Sommer Gemüse und Obst aus Gärten. In den ersten Tagen ernährte er sich von Frühlingszwiebeln und Knoblauchknollen. Auch bediente er sich von dem Getreide, das die Bauernkarren geladen hatten, ja, sogar aus den Futtersäcken der Pferde. Und hin und wieder stahl er Kleidungsstücke, die zum Trocknen an Wäscheleinen hingen; einmal streifte er sogar einem Betrunkenen die Stiefel ab. Einen Teil seines Diebesguts verkaufte er für ein paar Kopeken im nächsten Dorf. Wenn er zu viel Wodka getrunken hatte, focht er sinnlose Faustkämpfe aus.
    Nur eines gestattete er sich nicht, denn das hätte ihn endgültig zu dem Tier gemacht, das zu werden er auf dem besten Wege war – eine Frau mit Gewalt zu nehmen. Wenn ihn nach einer Frau gelüstete, er aber nicht genügend Geld in der Tasche hatte, um sie zu bezahlen, ging er mit einem Schulterzucken weiter.
    Als es erneut Herbst wurde, passierte er den Grenzstein, der die Grenze zwischen Sibirien und Westrussland markierte. Während er den rauen Steinzylinder betrachtete, der ihn um Kopfeslänge überragte, musste er wieder an seinen Vater denken. Aleksandr Kasakow hatte seinem Sohn zwar nie von seiner schrecklichen Zeit in den Minen erzählt. Wohl aber davon, wie er mit einer Wagenladung angeketteter Mitgefangener nach Sibirien reiste, weg von ihren Liebsten und allem, was ihnen vertraut war. Und wie sie just an diesem Grenzstein vorbeigekommen waren und einige der Männer – obgleich stark und würdevoll – das Gesicht in die Hände gebettet und geweint hatten.
    Im Gegensatz zu seinem Vater und dessen erbarmungswürdigen Leidensgenossen strebte Grischa in die andere Richtung. Als er über die Schulter zurückblickte, rief er im Geiste seiner Mutter und seinem verlorenen Bruder ein letztes Lebewohl zu. Er gelobte sich, keine Schuldgefühle mit sich herumzutragen, Schuldgefühle wegen dem, was er seiner Familie angetan hatte, und den Gefangenenwärtern und all den Menschen, die er unterwegs bestohlen hatte, um zu überleben. Es war die einzige Möglichkeit gewesen, ein neues Leben zu beginnen.
    Er legte die Hand auf den kalten Grenzstein und widerstand dem alten Impuls, sich zu bekreuzigen, dann setzte er den Fuß auf das europäische Russland.

FÜNF
    E in paar Stunden nach Antoninas Gespräch mit Grischa trifft Dr. Molow ein. Sie ist in Konstantins Zimmer, als er hereingeführt wird, und steht neben ihm, während der Arzt Konstantins Herz abhört und dann langsam eine Kerze vor seinen Augen hin- und herbewegt. Konstantin lässt alles über sich ergehen.
    » Gräfin Mitlowskaja « , sagt der Arzt, indem er die Kerze zurückstellt und sie ansieht, » zunächst möchte ich Ihnen meine Anteilnahme für die Tragödie aussprechen, die Ihre Familie ereilt hat. In allen Dörfern und auf den benachbarten Gütern spricht man davon. «
    Antonina nickt.
    » Das Fieber « , sagt Dr. Molow, » wann hat es begonnen? «
    » Ich weiß nicht. Vielleicht gestern. « Als Antonina den starken Knoblauchgeruch im Atem des Mannes wahrnimmt, schluckt sie schwer. » Wir haben seine gesunde Hand und Füße in kaltem Essigwasser gebadet, aber das Fieber ist nicht gesunken. «
    Der Arzt beugt sich erneut über Konstantin und wickelt den Leinenverband ab. Aber als er die letzte Lage abnimmt und der Wundgeruch ungehindert ins Zimmer strömt, zieht selbst er scharf die Luft ein. Antonina presst ihr Taschentuch vor Mund und

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