Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
Nase.
» Die Wunde hätte sofort gesäubert und genäht werden müssen « , sagt Dr. Molow. » Wie alt ist die Verletzung? «
» Vier Tage. « Vier Tage, seit sie zuletzt ihren Sohn in den Armen gehalten hat, denkt sie.
Der Doktor schüttelt den Kopf, öffnet seine Tasche und bringt ein kleines Lederetui zum Vorschein. Nachdem er die Wunde mit warmem Wasser gewaschen und desinfiziert und schließlich genäht hat, begibt er sich mit Antonina auf den Flur hinaus. Er sagt, er wolle am nächsten Morgen wieder nach dem Grafen sehen; an diesem Abend könne man nichts weiter tun. Er ist aus Pskow angereist, der nächstgelegenen Stadt, und wird auf Angelkow übernachten.
Antonina nickt. » Danke, Dr. Molow « , sagt sie und geht den langen Flur entlang zu ihrem Schlafzimmer.
Tanja hat gewartet, bis der Arzt und die Gräfin Konstantins Zimmer verlassen haben. Mit einem Stapel Handtücher und Bettwäsche kommt sie herein. » Wird er wieder gesund werden? « , fragt sie Pawel.
» Der Doktor hat getan, was er konnte « , erwidert Pawel, während die Frau die saubere Wäsche ablegt. Pawel weiß von ihrem Verhältnis mit Konstantin. Jeder auf dem Gut weiß es, einschließlich der Gräfin. Pawel betrachtet sie. Mit ihrem dunklen Teint und dem starken Knochenbau ist sie Konstantins erster Frau sehr ähnlich, sie ist sogar im gleichen Alter wie die erste Gräfin Mitlowskaja. Sechs Monate, nachdem seine Frau ihrem lebenslangen Magenleiden erlag, hat der Graf Tanja zum ersten Mal in sein Bett geholt.
Tanja beugt sich über den Grafen und streichelt ihm die Wange. » Kostja « , wispert sie. Sie hofft, dass er wieder gesund wird. In den dreizehn Jahren hat sie sich an die Annehmlichkeiten gewöhnt, die sie sich dank der zusätzlichen Rubel leisten kann, die der Herr ihr für ihre Dienste zusteckt.
Er rührt sich nicht, und Tanja verlässt, ohne Pawel anzuschauen, das Zimmer, geht die Treppe hinunter und zu dem zweistöckigen Steingebäude hinter dem Gutshaus, wo die Bediensteten von Angelkow untergebracht sind.
In ihrem Zimmer quält sich Antonina mit dem Gedanken, dass sie inzwischen ihren Sohn zurückhaben könnte. Wenn Konstantin nicht gewesen wäre. Ihre Wut auf ihn ist so groß, dass sie nicht schlafen kann.
Am nächsten Morgen zwingt sich Antonina mit dumpfem Kopf und verquollenen Augen aufzustehen. Die schlaflosen Nächte und der viele Wodka, mit dem sie ihren Schmerz zu betäuben sucht, fordern ihren Tribut. Sie weiß, dass sie nach ihrem Mann sehen muss, aber allein der Gedanke an den Gang über den langen Flur ist ihr ein Graus. Sie nimmt Tinka auf den Arm und schmiegt das Gesicht in das warme Fell des kleinen Hundes. Als Lilja hereinkommt, führt sie Antonina sanft zu dem Stuhl vor dem Frisiertisch und steckt ihr die Haare behelfsmäßig hoch. Während sie ihr das Gesicht mit einem warmen, feuchten Tuch abwischt, spricht sie mit ihr, aber Antonina erfasst die Bedeutung ihrer Worte nicht. Sie hat das Gefühl, als befände sie sich unter Wasser.
Als sich Antonina langsam auf die Tür zubewegt, um sich in Konstantins Zimmer zu begeben, hält Lilja sie zurück, um ihr einen Morgenrock über ihr Nachthemd zu streifen und einen Schal über die Schultern zu legen, den sie vor ihrer Brust mit einer Saphirbrosche befestigt. Dann bückt sie sich und hebt Tinka hoch, die Antonina folgen will.
Grischa steht vor Konstantins Zimmer. Er verbeugt sich vor Antonina und öffnet ihr die Tür. Antonina geht hinein, tritt an das Bett ihres Mannes und schaut zu ihm hinab. Er liegt genauso reglos da wie am Vorabend, nur dass er jetzt die Augen geschlossen hat. Getrockneter Eiter bedeckt seine Lippen. Dr. Molow sitzt auf einem Stuhl neben dem Bett und hält Konstantins verletzte Hand. Die frisch genähten Wundränder haben sich rötlich violett verfärbt und bilden eine geschwollene Wulst unter dem Faden. Durch die Stiche sickert rötliche Flüssigkeit, aber es ist nicht nur Blut.
» Ist es schlimmer geworden? « , fragt Antonina. Das Sprechen bereitet ihr Mühe. Sie hat einen trockenen Geschmack im Mund, und ihre Lippen sind taub.
» Ja. « Der Arzt sieht zu ihr hinauf und runzelt die Stirn. » Er ist bewusstlos. «
» Was ist geschehen? « , fragt sie. » Woher kommt das? «
» Das können wir noch nicht sagen. « Der Arzt wickelt frische Gaze um Konstantins Hand, die sich zusehends dunkler verfärbt.
» Wir? « , wiederholt Antonina. » Was meinen Sie mit ›wir‹? Und was können Sie noch nicht sagen? « Braucht sie wirklich so
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