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Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Holeman
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einer armseligen Hütte in einem Dorf zubrachte und es nicht verhindern konnte, an seinen kleinen Bruder zu denken und daran, wie er ihn verraten hatte, nahm er die kleine Flöte heraus, in die seitlich ein wenig unbeholfen Tima geschnitzt war – sein früherer Name. Kolja hatte sie für ihn geschnitzt. Dann trank er eine Flasche billigen Wodka, sodass er schlafen konnte, ohne von dem inzwischen allzu vertrauten Albtraum heimgesucht zu werden. Wenn hingegen die Erinnerung an Kolja auch tagsüber wiederkehrte, trieb er Felja zu einem scharfen Galopp an, um seinen Gedanken zu entfliehen.
    Als er einen Wochenritt von Nowosibirsk entfernt war, fand er sich von einem Trupp rauer Gesellen in grauen Kitteln umzingelt. Sie stellten ihm merkwürdige Fragen und wollten seine Papiere sehen.
    Papiere? Was für Papiere?
    Papiere, die bewiesen, dass das Pferd ihm gehörte, erklärten sie ihm. » Du siehst nicht aus wie ein junger Mann, der sich ein solch gut genährtes Don-Pferd leisten kann. Du hast es gestohlen « , sagten sie und zerrten ihn von seinem Pferd. Er wehrte sich so gut er konnte, aber das trug ihm nur zwei gebrochene Finger und ein Klingeln im Ohr ein, das zehn Tage währen sollte. Sie warfen ihn auf die Ladefläche eines Karrens, wo schon drei andere Männer lagen. Schweigend sahen diese zu, wie sie ihn neben ihnen anketteten. Aber als sie die ganze Nacht und fast den ganzen nächsten Tag über die Straßen rumpelten, erzählte ihm der Mann neben ihm, dass in einem Arbeitslager in der Nähe die Ruhr ausgebrochen sei. Die niedrigen Beamten, die ihm die Finger gebrochen und ihm den dröhnenden Schlag auf sein Ohr versetzt hatten, nahmen an diesem Tag wahllos alle körperlich tauglichen Männer fest, derer sie auf den Straßen habhaft wurden, um die Reihen der Gefangenen zu füllen und sicherzustellen, dass die benötigten Holzmengen geschlagen wurden.
    Grischa verfluchte sein Pech. Am meisten ärgerte er sich am Anfang über Feljas Verlust, wobei er hoffte, dass derjenige, in dessen Hände sein Pferd geraten war, es nicht misshandelte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die unrechtmäßige Verhaftung ihm mehr als eine oder zwei Wochen harter Arbeit eintragen würde, ehe er sich wieder auf den Weg machen konnte, diesmal allerdings zu Fuß. Er war harte Arbeit gewohnt. Doch als er im Lager ankam, das tief im Nadelwald lag, und den gequälten Ausdruck auf den ausgemergelten und von tiefen Furchen durchzogenen Gesichtern der Männer sah, und die Ketten, mit denen sie an ihre Schubkarren und Sägen festgebunden waren, packte ihn ein dumpfes Grauen.
    Während der ersten Wochen musste er immerzu an seinen Vater denken. Dieser hatte, obwohl er damals schon nicht mehr so jung und kräftig gewesen war wie Grischa, länger als ein Jahr unter noch härteren Bedingungen in den Minen weiter nördlich überlebt. Außerdem war Grischa an der frischen Luft. Im Sommer fanden die Männer in der dicht bewachsenen Taiga Beeren und manchmal auch Pilze, um ihre kargen Essensrationen zu ergänzen, nachdem sie zwölf Stunden lang Bäume gefällt hatten. Abgesehen von dem Messer durfte er seine wenigen Besitztümer, die er bei seiner Verhaftung dabeigehabt hatte, behalten. Man hatte ihm einen Sack mit seinen Sachen überreicht; und so besaß er noch immer ein paar Bücher, das Kruzifix, die Gebetsmühle und Koljas swirel.
    Während des Winters musste Grischa zusehen, wie um ihn herum die Männer von der harten Arbeit, der Kälte, Unterernährung und Krankheiten hinweggerafft wurden. In den Nächten husteten, stöhnten und flehten sie zu Gott, aber Grischa betete nicht. Als seinem Kollegen, mit dem er an der Zweimannschrotsäge arbeitete, eines Tages der Griff aus den vor Kälte tauben Fingern entglitt, schnitten ihm die scharfen, eckigen Sägezähne tief in den Oberschenkel. Grischa musste hilflos zusehen, wie der Mann im Schnee verblutete; in diesem Moment verlor er endgültig seinen Glauben.
    Gebete brachten weder Brot noch eine zusätzliche Decke, noch warme Stiefel oder Schutz vor den scharfen Sägezähnen. In seinen Augen verschwendeten die anderen ihre Zeit, indem sie für bessere Bedingungen beteten. Er wusste, wenn es ihm gelang, das Lager zu überleben, würde er auch in der Lage sein, außerhalb zu überleben. Er würde für das Wenige, was er zum Leben brauchte, arbeiten oder es zur Not stehlen und sich nur auf sich selbst verlassen.
    Während der Frühling nahte, heckte er mit zwei anderen Männern, beide ein paar Jahre älter

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