Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
hinzugestoßen war. Dann setzte er seine Geliebte freundlich, aber bestimmt in Kenntnis, dass ihre gemeinsame Zeit zu Ende sei. Meistens nahmen die Frauen es widerspruchslos hin, wussten sie doch, dass es ohnehin keinen Sinn machte, zu protestieren. Wenn sich eine von ihnen doch einmal weigerte, sich in ihr Schicksal zu fügen – zum Beispiel, eine Schwangerschaft abzubrechen oder künftig auf die schönen Stunden in der Datscha zu verzichten –, verschwand sie bald spurlos. Dann sprach man allenfalls noch hinter vorgehaltener Hand von ihr, als könnte einem allein die Erwähnung dieser rebellischen Frau ein ähnliches Schicksal bescheren.
Antonina wuchs also hauptsächlich in der Obhut von Menschen auf, die man eigens eingestellt hatte, um sich um ihre physischen Bedürfnisse zu kümmern oder um ihre Bildung voranzutreiben. Gleichzeitig war sie fasziniert von ihren älteren Brüdern, Wiktor, Marik und Dimitri, und wollte unbedingt mit ihnen mithalten. Als junges Mädchen lief sie oft ebenso zerzaust herum wie die Jungen, mit schlammbespritzten Stiefeln und Haaren, die sich aus den Bändern gelöst hatten und ihr wirr über den Rücken hingen. Ihre Kindermädchen, am Rande der Verzweiflung, bemühten sich nach Kräften, sie zu zähmen, wie der gnädige Herr es von ihnen verlangte. Sie steckten Antonina in schöne Kleider und Seiden- oder Satinpantöffelchen. Sie bürsteten ihr das Haar und legten es in Locken und versuchten auf diese Weise, wie vom Prinzen angeordnet, seiner einzigen Tochter ein wenig Weiblichkeit einzuhauchen.
Antonina machte es diesen Frauen, die sich redlich bemühten, ihr die Rolle einer Prinzessin nahezubringen, gar nicht leicht. Zwar nahm sie täglich an den Gebeten in der Gutskirche teil und lauschte am Sonntag drei Stunden lang dem Sprechgesang von Pater Wasili, aber das machte es auch nicht besser. Sie zeigte keinerlei Anzeichen eines sanften, den schönen Dingen des Lebens zugewandten Wesens, das man von einer jungen adeligen Dame erwartete. Stattdessen verbrachte sie viel Zeit bei der alten Köchin in der Küche oder lief der Haushälterin mit ihrem dicken Schlüsselbund treppauf und treppab hinterher. Diese brachte ihr die Bauernweisen bei, die sie so liebte.
Ihre Brüder behandelten Antonina wie einen Welpen. Als sie noch klein und niedlich war, spielten sie mit ihr, doch als sie größer und anstrengender wurde und vielleicht nicht mehr ganz so gewinnend war, wollten sie zunächst nichts mehr von ihr wissen. Erst als sie sahen, dass sie klaglos Schmerz und Leid erduldete, spornten sie sie an, mit ihnen mitzuhalten; sie lobten sie, wenn sie nicht weinte, nachdem sie von einem Baum gestürzt war, auf den zu klettern sie sie angespornt hatten. Wenn sie in dem eiskalten Gutssee schwammen, hielten sie sie dazu an, tief Luft zu holen, ehe sie sie unter Wasser drückten, bis ihr der Kopf zu explodieren drohte. Bald begriff Antonina, dass die Brüder sie schneller loslassen würden, wenn sie sich reglos treiben ließ, statt wild um sich zu schlagen. Auch zeigten die jungen Männer ihr, wie man mit einem Gewehr schoss, und nickten anerkennend, wenn sie die blauen Flecken sahen, die der Kolben an ihrer Schulter hinterließ.
Als sie zwölf war, ermunterten sie sie, Wodka mit ihnen zu trinken, und schütteten sich aus vor Lachen, wenn sie betrunken wurde. Aber da sie nicht ausgelacht werden wollte, trank sie den starken Schnaps heimlich, um sich abzuhärten. Den Schnaps gab es in allen möglichen Geschmacksrichtungen: von Kümmel über Dill bis Kirsch, Salbei und Birne. Und es gab ihn im Überfluss – im ganzen Haus verteilt fanden sich Schnapsflaschen: im Arbeitszimmer ihres Vaters, im Esszimmer, in der Bibliothek, dem Wohnzimmer. Es war so leicht, sich ein Gläschen oder auch mehrere zu gönnen – an Nachmittagen oder Abenden, wenn ihr langweilig war oder sie sich unruhig fühlte. Sie lernte, den Schnaps die Kehle hinabrinnen zu lassen, ohne ihn zu schmecken. Als sie vierzehn war, trank sie mit ihren Brüdern um die Wette. Zuerst zeigten sie sich überrascht, dann waren sie beeindruckt von der Trinkfestigkeit ihrer kleinen Schwester.
Inzwischen hatte sich Antonina längst daran gewöhnt, dass ihre Eltern, die mit ihrem eigenen Leben und ihren Amouren beschäftigt waren, ihr kaum Beachtung schenkten. Sie hatte ja ihre Brüder, und bis sie Lilja begegnete, vermisste sie nicht den Kontakt mit gleichaltrigen Mädchen.
Die Leibeigenen auf dem elterlichen Gut hielten sie für ein wenig
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