Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
bat sie ihren Vater um Erlaubnis, vom Tisch aufstehen zu dürfen; ihr sei unwohl, und sie könne nichts essen. Aber ihr Vater schalt sie, verlangte, sie müsse bleiben, bis ihre Brüder und die Gäste fertig gegessen hätten. Am anderen Ende der Tafel saß ein ältliches Paar, ein Baron und eine Baroness, das eine Woche lang auf dem Gut weilte. Beide waren schwerhörig und hielten die meiste Zeit des Tages ein Nickerchen, um sich nur bei den Mahlzeiten blicken zu lassen, wo sie einen erstaunlichen Appetit an den Tag legten.
Normalerweise gehorchte Antonina ihrem Vater. Aber diesmal sagte sie mit lauter Stimme: » Ich bin unpässlich. Ich habe meine Tage, Papa. «
Selbst wenn nur ihre Brüder und ihr Vater anwesend gewesen wären, wären ihre Worte anstößig gewesen, aber sich in Gegenwart des Barons und der Baroness so zu äußern, galt als absolut ungehörig. Außerdem war es gelogen. Antonina hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine Monatsblutung, erst ein paar Monate später sollte es so weit sein. In Erwartung, von ihrem Vater für ihr rüdes und unfeines Verhalten getadelt zu werden, straffte sich Antonina.
Doch die Rüge blieb aus. Ihr Vater wirkte nur unbehaglich und warf ihren Brüdern einen verstohlenen Blick zu, als erwarte er von ihnen eine Erklärung. Aber diese hielten den Blick gesenkt und machten sich eifrig mit Messer und Gabel zu schaffen, als hätten sie noch nie zuvor Schweinelende gegessen. Als hätten sie ihre kleine Schwester noch nie als weibliches Wesen betrachtet.
Der Baron und die Baroness indes schienen das kleine Drama gar nicht bemerkt zu haben, das sich am anderen Ende des Tischs abspielte; beide aßen ungerührt weiter und lächelten vage.
» Papotschka? « , sagte Antonina. » Darf ich jetzt auf mein Zimmer gehen? « Sie stand auf und legte sich die Hand seitlich an den Bauch, um ihre missliche Lage zu untermauern. Sie ahmte damit die Geste nach, mit der die jüngeren weiblichen Dienstboten ihre Bitte an die Haushälterin unterstrichen, ihnen nicht ganz so anstrengende Arbeiten zu übertragen, wenn sie ihre Tage hatten.
Ihr Vater sah sie kurz an und wischte sich mit der Serviette den Schnurrbart ab. » Ja, ja, natürlich « , sagte er, und sein Blick huschte über den Tisch, als suchte er nach dem Salzstreuer oder der Butterdose.
Als Antonina in der einsetzenden Dunkelheit auf ihrem Bett lag, dachte sie an die Hirschkuh und ihre Mutter.
Von da an begleitete Antonina ihre Brüder nicht mehr auf der Jagd. Dieser eine Zwischenfall hatte genügt, um ihre Freude am Töten im Keim zu ersticken. Mochten ihre Brüder sie auch noch so zu überreden versuchen oder sie hänseln, sie blieb bei ihrem Entschluss. Sie wurde immer stiller und in sich gekehrter und beobachtete schweigend die stark parfümierten und kostbar gewandeten Frauen, die ihre Brüder hin und wieder zu einem gesellschaftlichen Abend einluden.
Antonina – die kleine Schwester dieser großen, gut aussehenden jungen Männer – ließ sich nicht mehr in ihre oberflächlichen Gespräche hineinziehen, die sich vorwiegend um den neuesten Gesellschaftsklatsch drehten. Ebenso weigerte sie sich, ihren Bitten nachzukommen und Klavier zu spielen oder Gedichte vorzutragen oder im Salon eine Szene aus einem Theaterstück nachzuspielen. Sie hob das Kinn und schüttelte energisch den Kopf. Nein, sie würde nicht mehr ihre Kunststückchen abliefern wie die armen Bären, die angekettet hinter den Wagen der deutschen Schausteller hertrotteten, die man ab und zu auf den Straßen sah.
Hatten ihre Brüder ihr bis dahin geschmeichelt und sie wegen ihrer Unempfindlichkeit, ihrer Tapferkeit und ihrer Trinkfestigkeit gelobt, warfen sie ihr nach diesen Abenden neuerdings vor, sie habe sie blamiert und sie sei launisch und schwierig geworden.
» Außerdem machst du immer ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter « , sagte Witja. » Warum lächelst du nicht ab und zu? «
» Ich lächele, wenn es Grund zum Lächeln gibt « , entgegnete sie.
Nach einer gewissen Zeit beschloss Antonina, dass es besser war, auf ihrem Zimmer zu bleiben, wenn ihre Brüder Gäste empfingen. Sie fühlte sich nirgendwo dazugehörig: Sie war weder so kühl und unnahbar wie ein Mann noch sanft und süßlich wie die weiblichen Bekannten ihrer Brüder.
Eines Sonntags vertraute Lilja Antonina an, dass sie, wenn es ihr freistünde zu tun, was sie wolle, in ein Kloster der heiligen Elisabeth eintreten würde. Der Dorfpfarrer hatte einmal von den tugendhaften Nonnen erzählt, die
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