Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
konnte, musste ich meinen Vater überzeugen, dass er den Karren holt und sie nach Hause bringt. Er war außer sich vor Wut. Er hat mehrere Stunden Arbeitszeit verloren, und sie konnte zwei Tage lang nicht arbeiten. Anschließend musste sie eine Woche lang langsam tun. Er hat sie geschlagen, aber das hat sie auch nicht dazu gebracht, schneller zu arbeiten. «
» Er hat sie geschlagen? « , wiederholte Antonina. » Weil sie ein Baby zur Welt brachte und nicht arbeiten konnte? «
Lilja zuckte die Schultern, nahm Sesja hoch und streichelte mit den Fingerknöcheln seinen Kopf. » Er schlägt sie immer. Mich auch. Ljoscha noch nicht. Höchstens ein bisschen. «
Eine Weile saßen sie schweigend da, und Lilja genoss Antoninas entsetzten Ausdruck.
Antonina stellte sich ein winziges, blau angelaufenes Neugeborenes vor, das zwischen blauen Flachsreihen dalag, darüber der blaue Himmel. Alles war blau. Es war ein furchtbar trauriges Bild, doch in Antoninas Vorstellung verlieh das Blau ihm etwas Unwirkliches. Sie hatte das gleiche Gefühl, wie nachdem sie eine wunderschöne Passage eines Romans gelesen hatte. Sie nahm Sesja von Liljas Schoß und bettete das Gesicht in sein Fell, weil sie Liljas Blick nicht länger ertrug.
Jeden Sonntag, nachdem sie Liljas Geschichten gehört hatte, sprach sie ein Dankgebet an die heilige Mutter Gottes für all die Geschenke, die sie ihr zuteilwerden ließ. Sie kniete in der Ecke ihres Zimmers, das von warmem Kerzenlicht erhellt wurde und dessen Wände ihre Sammlung von Ikonen schmückte, die Pater Wasili gesegnet hatte. Und war unendlich dankbar.
An einem schwülheißen, diesigen Julitag, ein paar Monate nachdem sie Lilja kennengelernt hatte, tötete Antonina zum ersten Mal. Es war ein Rothirsch. Sie befanden sich tief in dem Birkenwald der Olonows, und Antoninas Schuss war sauber und traf die Hirschkuh mitten in die Brust. Das Tier fiel anmutig auf die Knie, den Kopf noch immer überrascht erhoben, doch bis Antonina herangeritten und abgesessen war, lag es bereits auf der Seite. Während sich Antonina neben sie kniete, tat die Hirschkuh ihre letzten Atemzüge. Sie zog die Handschuhe aus und streichelte ihren zarten Kopf, sah, wie die Augen des Wilds trüb wurden und die Zunge, die leicht herausragte, steif wurde.
» Ein prächtiger Schuss, Schwesterchen « , sagte Wiktor, und sie sah stolz zu ihm auf. » Merkwürdig « , fügte er hinzu, und sie blickte ihn fragend an.
» Was ist merkwürdig, Witja? «
Er betrachtete den geschwollenen Bauch der Hirschkuh. » Es ist eigentlich schon zu spät. Um diese Zeit sind die Kälber längst geboren. « Antonina legte die Hand auf die Wölbung des Bauchs und spürte eine winzige Bewegung. Sie sah zu ihrem Bruder hoch und öffnete lautlos den Mund.
Er hob nur beiläufig die Schulter. » Macht nichts. Nur noch ein paar Sekunden, dann sind beide tot. Nun komm, die Männer sollen sie ausweiden und nach Hause bringen. Und beim Abendessen werden wir auf dich, unsere kleine Artemis, anstoßen. « Er schenkte ihr ein liebevolles Lächeln.
Doch in jenem Moment, als Antonina das sterbende Wesen im Leib des Muttertiers fühlte, geschah etwas mit ihr. An ihre eigene Mutter verschwendete sie kaum einen Gedanken. Nur manchmal, wenn sie am Eingangsportal stand, um Gäste zu empfangen, betrachtete sie sie versonnen und fragte sich, ob es wirklich stimmte, was ihr Vater einmal gesagt hatte, dass sie wie Prinzessin Olonowa aussah, als diese in ihrem Alter war.
Während sie die winzige Bewegung im Leib der Ricke wahrnahm, dachte Antonina an Lilja und wie sie die tote Romka in den Armen gewiegt hatte. Sie dachte an das blau angelaufene Kind, das auf die Erde des Flachsfeldes fiel. Sie dachte an ihre eigene Mutter und stellte sich vor, wie diese die Hand auf ihren gewölbten Bauch gelegt hatte, als sie sich darin bewegte. Und plötzlich spürte Antonina eine nie gekannte Traurigkeit. Sie hatte ein Muttertier und sein ungeborenes Junges getötet, und zum ersten Mal vermisste sie ihre eigene Mutter, die in diesem Moment vermutlich in ihrem Zimmer in Sankt Petersburg war und einem schmucken jungen Leutnant einen Löffel voll feinstem Kaviar in den Mund schob.
Beim Abendessen starrte Antonina auf das saftige Stück Schweinelende auf ihrem Teller hinab. Was war mit dem winzigen Hirschkalb? Hing es jetzt neben seiner ausgeweideten Mutter an einem Haken? Würde es ebenfalls auf einem Teller landen? Übelkeit überkam sie. Ohne auch nur Gabel und Messer angefasst zu haben,
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