Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
verrückt: ein Mädchen, das sich wie ein Junge kleidete, das im Sommer in vollem Galopp über die staubigen Wege preschte, während seine Begleiter Mühe hatten mitzuhalten, oder das sich im Frühjahr und Herbst durch die knietiefen Schlammfurchen kämpfte, in die heftige Regengüsse die Straßen verwandelten.
Zwar hatte Antonina einige der Hausleibeigenen liebgewonnen, aber die Leibeigenen, die die Landwirtschaft versorgten, waren für sie mehr oder weniger Teil der Landschaft. Auf den Feldern über ihre Arbeit gebeugt oder auf den Straßen unter ihrer Last waren die meisten von ihnen für sie namen- und gesichtslos.
Doch nachdem sie Lilja kennengelernt hatte, änderte sich das.
Am jenem zweiten Sonntag brachte Lilja den Welpen mit, einen kleinen Rüden mit einem weißen Stern auf dem hinteren Teil des Rückens. Lilja hatte ihm den Namen Sesja gegeben.
Anfangs war Lilja noch gehemmt und fühlte sich offensichtlich unwohl, aber als sie sah, wie Antonina über Sesjas Possen lachte, entspannte sie sich ein wenig.
Als Lilja meinte, sie müsse nun nach Hause zurück, sagte Antonina, sie würde am folgenden Sonntag wiederkommen. Lilja widersprach nicht, denn der Wunsch der Prinzessin war ihr Befehl. Bei ihrem dritten Besuch fühlte sich das Mädchen schon deutlich wohler in seiner Haut, und vor ihrem vierten Treffen freute sich Lilja sogar auf die Unterbrechung der sonntäglichen Langeweile im Dorf.
Von da an konnte sie es kaum erwarten, bis Antonina endlich eintraf.
Im Laufe des langen und ungewöhnlich warmen Frühlings und Sommers des Jahres 1845 lernte Antonina durch ihre geheime Freundschaft mit Lilja die wahren Lebensumstände der Leibeigenen kennen. Zunächst antwortete Lilja nur zögerlich und vorsichtig auf die Frage der Prinzessin, was sie im Winter mache, wenn es draußen keine Arbeit gab, denn sie hatte Angst, etwas Falsches zu sagen. Sie überlegte sogar, ob die Prinzessin ihr gar eine Falle stellte, um herauszufinden, ob sie und ihre Familie vielleicht nicht hart genug arbeiteten. Aber als ihr klar wurde, dass Antonina aus ehrlichem Interesse fragte, legte sie ihr Misstrauen ab. Mit der Zeit genoss Lilja es sogar zu sehen, wie aufmerksam Antonina ihren Geschichten lauschte. Es gefiel ihr zusehends, der Prinzessin von ihrem Leben zu berichten, und wenn diese ihr sprachlos zuhörte oder ungläubig den Kopf schüttelte, spürte sie einen Anflug von Genugtuung.
Eine Geschichte erschütterte Antonina so sehr, dass Lilja nur mit Mühe ihre Freude verbergen konnte. Sie hatte sich ein Jahr zuvor zugetragen.
» Nun « , sagte Lilja und rutschte auf dem umgefallenen Baumstamm, auf dem sie für gewöhnlich saßen, in eine bequemere Position, » einmal hat meine Mutter auf dem Feld ein Baby bekommen. «
» Deinen kleinen Bruder – Ljoscha? «
» Nein. Ein Mädchen. Sie hat es erst letztes Jahr während der Ernte gekriegt. Aber es ist gestorben. «
Antonina sah sie eindringlich an, aber Liljas Ausdruck hatte sich nicht verändert. Ob sie nun erzählte, dass sie und ihre Mutter den dreijährigen Ljoscha abwechselnd auf dem Rücken trugen – etwa an den Tagen, wenn er zu krank war, um mit ihnen mitzulaufen –, oder ob sie von den unzähligen vergifteten Ratten erzählte, die sie in der vorigen Nacht in der Schmiede ihres Vaters hatte auflesen und hinauswerfen müssen, ihre Miene blieb stets unbewegt. Und selbst jetzt, da sie ihr von ihrer kleinen Schwester erzählte, die kurz nach der Geburt gestorben war, sah sie kein bisschen traurig aus.
» Aber … warum hat deine Mutter sie denn auf dem Feld bekommen? «
» Sie hat meinem Vater gesagt, dass die Wehen angefangen haben, aber er meinte, dass sie nicht zu Hause bleiben kann. Der obrok – den wir deinem Vater schulden – war fällig, und wenn sie ausgefallen wäre, wären wir in Rückstand geraten. «
Antonina schluckte schwer. Sie hätte Lilja gern gefragt, was obrok bedeutete. Warum mussten Liljas Eltern ihrem Vater etwas zahlen? Das machte keinen Sinn. Sie arbeiteten doch für ihn.
» Als sie nicht mehr verhindern konnte, dass das Baby zur Welt kam, war es zu spät, um nach den anderen Frauen zu rufen. Da hat sie sich auf meine Schulter gestützt, während sie es herauspresste. Es ist einfach so auf den Boden gefallen. Aber es war schon tot; es war ganz blau. Ich habe die Nabelschnur mit meiner Sense durchtrennt. «
Antonina hörte ihr mit angehaltenem Atem zu.
» Und dann wollte es nicht aufhören zu bluten, und weil meine Mutter nicht gehen
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