Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
ja, natürlich. Was für ein Glück, dass wir ausgerechnet in diesem Moment vorbeiritten, als der kleine Sesja am schlammigen Ufer ausrutschte. Ich bin ja so froh, dass meine beiden Männer ihn vor dem sicheren Tod retteten. «
Pjotr Iwanowitsch riss den Welpen grob aus Liljas Armen. Der Hund jaulte. Er hielt ihn an der Gurgel gefasst und schwang ihn zu Antonina hinauf. Den Kopf hatte er die ganze Zeit gebeugt, während Lilja nun zu ihr hochsah. Antonina blickte auf seinen breiten Nacken, den Schmutzrand unter dem Kragen seiner Tunika. » Nehmt Ihr ihn, Prinzessin. Unsere Tochter hat gesagt, er gefällt Ihnen, also sollen Sie ihn auch bekommen. «
Antonina öffnete den Mund, um zu protestieren, aber als sie Liljas blasses Gesicht und ihren besorgten Ausdruck sah, nickte sie und nahm Sesja entgegen. » Danke « , sagte sie und wollte hinzufügen » Lilja Petrowna « , als ihr einfiel, dass es für Lilja nicht gut wäre, wenn ihrem Vater klar wurde, dass sie einander bereits kannten.
Ohne ein weiteres Wort wendete sie ihr Pferd und ritt zum Dorf hinaus, während sie Sesja fest an sich drückte. Auf dem Heimweg musste sie unentwegt an Liljas Gesicht denken, das aschfahl gewesen war, und an die dürren Beine des kleinen Jungen, dessen knubbelige Knie übergroß wirkten.
Am selben Abend nahm Antonina Sesja mit ins Bett. Sie hatte ihn, unter ihrem Cape versteckt, in ihr Zimmer geschafft und ihn mit einem großen Teller voll Rindfleisch mit üppiger Bratensoße gefüttert, den sie nach dem Abendessen heimlich aus der Küche geholt hatte. Zweimal in der Nacht brachte sie den Welpen auf ihren Balkon hinaus und beobachtete, wie er sich mehrmals im Kreis drehte und am Boden schnupperte, ehe er in der Nähe eines der Pfosten pinkelte. Beim zweiten Mal spähte er durch die Geländerstäbe und stieß mehrmals sein leises, scharfes Gebell aus. » Sch, Sesja! « Antonina nahm ihn hoch und hielt ihm die Schnauze zu, so wie Lilja es getan hatte. Dann setzte sie sich mit ihm auf dem Arm auf die Fersen und spähte ebenfalls durchs Balkongeländer. Borja, der Stallmeister, führte gerade ein Pferd über den Hof. » Du musst lernen, ein braver Hund zu sein und nicht ständig zu bellen « , raunte sie dem Hund in sein flauschiges Ohr.
Mit dem Welpen im Arm schlief sie wieder ein, doch irgendwann in der Nacht wachte sie erneut auf, weil er unruhig war und fiepte. Verschlafen streichelte sie ihn und murmelte ein paar beruhigende Worte, ehe sie abermals einschlief. Am Morgen merkte sie dann, dass sich das kleine Wesen erbrochen hatte: Am Fußende auf ihrer kostbaren Seidendecke entdeckte sie eine schleimige Lache mit kaum verdauten Rindfleischstücken.
Der Welpe fiepte jetzt lauter und trippelte an der Kante des hohen Betts entlang, offensichtlich war er nicht in der Lage hinunterzuspringen, oder er hatte Angst. Antonina nahm ihn hoch und eilte mit ihm auf den Balkon hinaus. Als sie sah, dass der junge Hund erbärmlich zitterte und sich auf den Boden hockte, wo er krampfhaft versuchte, die Reste seiner Mahlzeit loszuwerden, dämmerte Antonina, dass sie schuld an seiner Misere war; das Rindfleisch mit Bratensoße war viel zu schwer für ihn gewesen.
» Mein armer Sesja « , murmelte sie und streichelte ihm über Kopf und Rücken, nachdem er sich endlich erleichtert hatte und sich mit der Schnauze auf den Pfoten auf den Boden legte und, wie es Antonina schien, sehnsüchtig durch das Balkongeländer hinausblickte.
Der Hund sah zu ihr hoch, und sie verspürte einen Anflug von Reue. Vielleicht vermisste er Lilja? Vielleicht vermisste er sein gewohntes Fressen, das aus trockenen Brotkrusten bestand, und sogar sein Strohlager neben dem Herd?
» Na, bist du traurig, kleiner Kerl? « Sie nahm ihn auf den Arm und drückte ihn an sich. Als er sich wieder befreien wollte, setzte sie ihn erneut auf den Boden. Wieder spähte er zwischen den Geländerstäben hinaus, und Antonina bekam ein noch schlechteres Gewissen. Sie wusste, dass es nicht gut gewesen war, ihn Lilja wegzunehmen, aber hatte sie denn eine Wahl gehabt? Lilja hatte ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie ihn mitnehmen sollte.
Nachdem ihr Kammermädchen ihr geholfen hatte, sich anzukleiden, sie frisiert und auf Antoninas Geheiß hin die beschmutzte Decke entfernt hatte, nahm sie Sesja mit in den Salon hinunter. Ihr Vater saß vor dem Kamin und las.
» Schau, Papa « , sagte sie und wiegte Sesja im Arm, während sie gleichzeitig seine Schnauze zuhielt.
Ohne den Blick
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