Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
ihr Leben Gott geweiht hatten. » Stell dir vor, Tag für Tag an einem sauberen, schönen Ort zu leben, mit Kerzen und Ikonen und Weihrauchduft. In einem eigenen Bett in meiner eigenen Zelle zu schlafen und den lieben langen Tag nur zu beten und Gott zu dienen « , sagte sie.
Antonina fiel bald auf, wie intelligent Lilja war; andernfalls hätte sie schnell das Interesse an ihr verloren. Der helle Kopf des Mädchens zeigte sich unter anderem darin, dass es zahlreiche Bibelverse auswendig konnte – mehr als sie selbst, wie Antonina vermutete. Lilja hatte sie sich allein dadurch angeeignet, dass sie dem Priester in der Kirche aufmerksam zuhörte.
» Aber mein Vater sagt, dass das Kloster nur für adelige Damen ist, nicht für Bauernmädchen wie mich. Und selbst wenn sie mich aufnehmen würden, würde er es mir nicht erlauben. Er sagt, dass die Frauen die Kirche den Männern überlassen sollten. Wir sollten Gott dienen, indem wir Kinder kriegen und unsere Arbeitskraft ganz der Familie widmen. « Sie zuckte die Schultern. » Und wovon träumst du? «
Antonina blinzelte. » Ich … nun … ich würde gern Klavier spielen. «
Lilja hatte noch nie ein Klavier gesehen. Die einzige Musik, die sie kannte, war der disharmonische Klang der Glocken in der Dorfkirche. » Erlaubt dein Vater es dir auch nicht? «
» Oh, ich spiele jeden Tag Klavier, das schon. Aber ich würde gern vor Publikum auftreten, in einem Konzert. Meine Eltern haben mich schon mehrmals zu Konzerten in Moskau und Sankt Petersburg mitgenommen. «
» Dann wirst du es bestimmt eines Tages dürfen. «
» Nein. Nur Männer dürfen Konzerte geben. «
Das konnte Lilja nicht verstehen.
Natürlich konnte Antonina ihrem Vater unmöglich erzählen, dass sie jeden Sonntagnachmittag ein paar Stunden mit der Tochter des Dorfschmieds von Kaschra verbrachte. Ebenso wenig konnte sie ihren Brüdern erzählen, dass sie mit einem jungen Hund auf einem brachliegenden Feld am Waldrand spazieren gingen, wo sie ihm beibrachten, einen Stock zu apportieren oder Pfötchen zu geben, indem sie ihn mit einem Stückchen Schwarzbrot belohnten. Wenn er einem Stock hinterherjagte oder seinen eigenen Schwanz zu erhaschen suchte, bellte er, desgleichen wenn er seine kleinen Vorderpfoten auf Liljas Stiefel stellte und bettelte, von ihr hochgenommen zu werden.
Stets waren Kescha und Semjon bei ihren Treffen dabei, und nach einer Weile störte sich Lilja nicht mehr an ihrer Anwesenheit.
Kescha und Semjon sprachen nie mit Antoninas Vater; ihre Rolle bestand darin, dafür zu sorgen, dass seiner Tochter nichts zustieß. Die beiden jungen Leibeigenen sahen nichts Schlimmes darin, wenn ihre junge Herrin auf einer Waldlichtung oder einem Stoppelfeld mit einem Mädchen aus dem Dorf und einem tollpatschigen, kläffenden Laika - Welpen spielte. Der Hund machte der Bezeichnung seiner Rasse – die sich vom russischen Wort für » bellen « ableitete – alle Ehre. Zwar fanden die beiden Männer diese Treffen ein wenig seltsam und nebenbei gesagt fast schon geschmacklos, aber sie fanden viele Dinge, die der Prinz und seine Familie taten, geschmacklos. Ihre Aufgabe war es, die junge Mademoiselle zu bewachen, und dieser Aufgabe kamen sie nach.
Antoninas Freundschaft mit Lilja dauerte den ganzen Sommer über bis in den Herbst hinein. Die Schwierigkeiten begannen, als sie sich sechs Monate kannten.
ZEHN
D er Sonntag Mitte Oktober war verhangen und trüb, die Luft eiskalt. Antonina und Lilja waren kaum zehn Minuten auf der Lichtung, als es anfing zu regnen. Jedes Donnergrollen und jeder Blitz, der den Himmel zerriss, ließen Lilja zusammenzucken.
» Ich muss nach Hause. « Sie hob Sesja hoch und drückte ihn an sich. Der Hund zitterte und winselte, während Lilja ängstlich in den Himmel blickte.
» Komm « , sagte Antonina und streckte die Hand aus. » Komm mit mir. Ich bringe dich ins Dorf zurück. « Hand in Hand rannten sie zu Antoninas Pferd. Semjon zog ein Regencape aus seiner Satteltasche, saß ab und legte es um Antoninas Schultern. Sie half Lilja aufzusitzen und schwang sich dann vor sie in den Sattel. Im Grunde war der Sattel nicht groß genug für zwei, aber die Mädchen waren beide schlank.
» Halt dich fest « , sagte Antonina, und das Mädchen schlang die Arme um ihre Taille, sodass der Hunde geschützt zwischen ihnen saß. Antonina trieb das Pferd zu einem schnellen Trab an, und zehn Minuten später erreichten sie auch schon den Dorfrand.
» Bitte lass mich hier herunter, Antonina
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