Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
Leonidowna! « , rief Lilja. Sie musste die Stimme erheben, um gegen das Prasseln des Regens anzukommen. Sie hatte längst aufgehört, Antonina » Prinzessin « zu nennen, manchmal nannte sie sie sogar bei ihrem Kosenamen Tosja.
» Nein, nein, ich bringe dich zu eurem Haus. Welches ist es? «
» Bitte, es ist besser, wenn du mich hier absteigen lässt « , erwiderte Lilja, aber Antonina hörte nicht auf sie. Schließlich deutete Lilja die schlammbedeckte verlassene Straße hinunter. Es war düster, nass, und das Dorf wirkte noch elender als sonst. Sämtliche Holztüren waren geschlossen, und die Fensterläden ratterten im Sturm. Als sie vor einer kleinen armseligen Hütte hielten – Kescha und Semjon brachten ihre Pferde hinter ihnen zum Stehen –, ging die Tür auf. Ein Mann und eine Frau streckten die Köpfe heraus, und sofort prasselte der Regen, der von dem schrägen Dach herunterlief, auf sie herab. Ein kleiner Junge, dessen nackte dürre, schmutzige Beine unter einer kurzen, abgerissenen Tunika hervorschauten, versteckte sich hinter seiner Mutter und klammerte sich an ihrem Rock fest. Er hustete mit offenem Mund. Seine Mutter schob ihn noch weiter in ihren Schatten, sodass das Kind vor fremden Blicken geschützt war, nur der schleimige Husten verriet seine Anwesenheit.
Der Mann und die Frau starrten den merkwürdigen Trupp fassungslos an. Doch dann besannen sie sich und verbeugten sich tief aus der Hüfte heraus, sodass der Regen ihnen vom Dach auf den Rücken klatschte. Das Kind hustete unaufhörlich.
» Kescha! « , rief Antonina. » Komm und hilf ihr abzusteigen. «
Nachdem der Mann abgesessen war und die Arme Lilja entgegenstreckte, um sie vom Pferd herunterzuheben, sah Antonina, wie sich die Frau, die noch immer in ihrer Verbeugung verharrte, bekreuzigte und dann die Finger küsste.
» Sind das deine Eltern? « , fragte Antonina, obgleich sie wusste, dass der Mann in der Ledertunika und mit den kräftigen, mit schwarzen Flecken übersäten Händen und Armen, die ihn als den Dorfschmied auswiesen, niemand anders als Liljas Vater sein konnte.
» Ja, Prinzessin « , sagte Lilja, während sie neben dem Pferd stand. Dann verbeugte auch sie sich vor Antonina, etwas, das sie seit Langem nicht mehr getan hatte. » Mein Vater, Pjotr Iwanowitsch, und meine Mutter, Lipa Stanislawowna. «
Liljas Vater ergriff das Wort. Da er immer noch in seiner Verbeugung verharrte, sah es aus, als spräche er zu seinen Stiefeln. » Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Prinzessin Olonowa. Was immer meine Tochter getan hat, es wird nicht wieder passieren. Sie wird für ihre Ungezogenheit Schläge bekommen. «
Der Regen ließ nach. Antonina runzelte die Stirn. » Sieh mich an, Petja « , sagte sie und benutzte die Abkürzung seines Namens, wie es ihresgleichen taten, wenn sie mit Leibeigenen sprachen. Der Mann richtete sich auf. Sein Mund stand noch immer ein wenig offen, und Antonina sah, dass ihm die unteren Zähne fehlten. » Sie hat nichts Unrechtes getan. « Sie warf Lilja einen kurzen Blick zu.
Die Augen des Mädchens waren unnatürlich geweitet, und ihr Ausdruck hatte etwas Flehendes, als wollte sie Antonina etwas begreifbar machen. Die Hand um Sesjas Schnauze, damit er nicht bellen konnte, stellte sie sich neben ihren Vater. Doch der kniff die Augen bedrohlich zusammen, während er seine Frau ansah, die sich noch immer verbeugte, und dann Lilja. Er sprach so leise, dass Antonina nicht hörte, was er sagte. Lilja schüttelte den Kopf und antwortete schnell und ebenso leise. Der Vater sagte wieder etwas mit lauterer Stimme, und es klang alles andere als freundlich. Schließlich hob Lilja den Blick zu Antonina.
» Mein Vater sagt, dass Sie Sesja mitnehmen müssen. «
Ihr Vater zischte etwas, und Lilja richtete den Blick rasch wieder auf den schlammigen Boden.
» Warum? Warum soll ich ihn mitnehmen? «
» Ich hab ihm erzählt, dass Sesja fast vom Fluss mitgerissen worden wäre. « Während sie auf die Erde starrte, sprach Lilja lauter und langsamer als sonst. » Dass Ihre Leibwächter ihn ergriffen und aus dem Wasser gezogen haben. Und dass Sie sich Sorgen um Sesja gemacht haben; und uns deswegen nach Hause gebracht haben. « Auch wenn Antonina ihr Gesicht nicht sehen konnte, erkannte sie an ihrem merkwürdig steifen Ton, dass Lilja sie insgeheim anflehte, sie nicht zu korrigieren.
Antonina verstand zwar nicht, warum Lilja diese Lüge ersonnen hatte, begriff jedoch instinktiv, dass sie mitspielen musste. » Oh ja,
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