Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
Handschuhen erschienen. Der eine stellte ein Tablett mit einem bedeckten Teller vor Antonina und hob dann schwungvoll die silberne Glocke. Der andere Diener schenkte ihr eine Tasse Tee aus dem Samowar ein.
» Danke « , murmelte Antonina und sah auf die Eierpastete und das Fleisch. Ihr Magen rebellierte.
» Iss, Tosja « , forderte ihr Vater sie auf. » Iss, solange die Pastete noch heiß ist. «
Antonina nahm ihre Gabel und zerteilte den mit Eiern gefüllten Teig, den Blick starr darauf gerichtet. Dann sah sie ihren Vater an. » Papa?. «
» Hm? « , sagte er, ohne den Blick von seiner Zeitung zu heben.
» Papa? « , sagte sie etwas lauter, und diesmal ließ ihr Vater die Zeitung in den Schoß sinken und sah sie über den Tisch hinweg an. Sie lächelte zaghaft.
» Was wird jetzt aus Lilja? «
» Lilja? « , sagte er, als hätte er diesen Namen nicht bereits am Nachmittag des Vortags aus ihrem Mund gehört. » Oh, die Tochter des Schmieds. Die Sache ist bereits erledigt. «
» Erledigt? «
» Ja. Den Schmied habe ich auspeitschen lassen. Um seine Frau zu bestrafen, habe ich das Mädchen und das andere Kind weggeschickt. «
Antonina schluckte schwer. » Du hast sie weggeschickt? « , sagte sie im Flüsterton.
» Ja. Das Mädchen und dieses schmutzige Kind. « Er sprach in beiläufigem Ton. » Der kleine Junge hätte mir eigentlich egal sein können, aber dann hat mir das Mädchen doch leidgetan. Im Grunde habe ich es sogar bewundert. Sie hat sich in ihr Los gefügt – hat keinen Aufstand gemacht, als sie erfuhr, was mit ihr geschehen soll. Und als Belohnung habe ich ihren Bruder mit ihr gehen lassen. « Er sah Antonina mit hochgezogenen Augenbrauen an. » Ich bin nicht so hartherzig, wie du vielleicht denkst, meine Tochter. «
Antonina versuchte, etwas zu sagen, aber ihr Mund war trocken und sie hatte das Gefühl, keinen Ton herauszubringen. Sie hob die Teetasse an die Lippen. Ihre Hand zitterte, und brühheiße Tropfen spritzten auf den Rücken ihrer anderen Hand. Sie musste beide Hände gebrauchen, um die Tasse auf die Untertasse zurückzustellen, ohne den Tee zu verschütten. » Papa, Ljoscha, der kleine Junge … er ist gerade erst vier. Er ist kränklich. Er braucht seine Mutter, die sich um ihn kümmert. «
Ihr Vater schnitt konzentriert das Fleisch. » Das ist nicht meine Sorge. Die Strafe war angemessen für das Vergehen. «
Vergehen, dachte Antonina. » Wo hast du die beiden hingeschickt? «
» Das brauchst du nicht zu wissen, Antonina. Du hast deine Lektion hoffentlich gelernt. Jetzt weißt du, dass dein Handeln Folgen hat. «
Antonina stellte sich die Tragödie vor, die sich in der armseligen Hütte in Kaschra zugetragen hatte. Wie die Mutter weinte, als man ihr den hustenden und wehklagenden Ljoscha aus den Armen riss, während der Vater womöglich ohnmächtig war vom Auspeitschen. Sesja, der ohne Unterlass bellte. Und Lilja? Bei diesem Gedanken bedeckte sich Antonina mit den Händen die Augen. Bestimmt wusste Lilja, dass das, was man ihrer Familie zufügte, wegen Antonina geschah. Dass Antonina ihren Namen preisgegeben hatte.
» Wir werden nicht mehr von dieser unleidigen Angelegenheit reden « , sagte Prinz Olonow, während er sie über den Tisch hinweg ansah. » Reich mir bitte den Pfeffer, Tosja. «
Als Antonina keine Anstalten machte, seiner Bitte nachzukommen, bat er sie ein zweites Mal. Sie starrte ihn an. » Jetzt weiß ich, was für ein Mann du bist « , sagte sie. » Erst gestern hast du gesagt, dass du wie ein Vater zu deinen Leibeigenen bist, dass sie wie deine Kinder sind. Würdest du deine eigenen Kinder so behandeln? Würdest du mir ein solches Unglück zufügen, nur um ein Exempel zu statuieren? Warum hast du das getan? «
Die Miene ihres Vaters hatte sich verdunkelt, er presste die Lippen aufeinander. Antonina wusste, dass sie im Begriff war, seinen Zorn heraufzubeschwören, aber sie konnte einfach nicht aufhören. In ihrem Kopf hämmerte es; sie musste schreien, um das laute Dröhnen zu übertönen. » Du verschlimmerst ihr Elend noch. Du bist ein Tyrann. «
Hatte sie tatsächlich geschrien? Er stand auf und kam um den Tisch herum. Antonina stand ebenfalls auf. Mit erhobener Hand trat ihr Vater auf sie zu.
Antonina presste die Lippen zusammen, wollte auf keinen Fall die Augen schließen, nicht einmal mit der Wimper wollte sie zucken. Sie wollte, dass er sie schlug; sie wollte erleben, was die Dienstboten erlebten. Wollte wissen, was Lilja gegenüber ihrem Vater
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