Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
gewesen. Antonina hatte auch bemerkt, dass sie einen neuen großen Smaragdring trug.
Die Prinzessin hielt Wort. Sie reiste eine Woche vor dem Fest an, das drei Tage dauern sollte. Sie wollte sicherstellen, dass ihre Anweisungen zu ihrer Zufriedenheit ausgeführt wurden und dass das Gutshaus in vollem Glanz erstrahlte. Abgesehen von Marik und seiner Frau, von Dmitri und den jungen Leuten der benachbarten Gütern, die ungefähr in Antoninas Alter waren und die sie persönlich eingeladen hatte, bestand der Großteil der hundertköpfigen Festgesellschaft aus Freunden ihrer Mutter aus Sankt Petersburg und Moskau. Sie würden in den Gästezimmern auf dem Gut übernachten, die es zu Dutzenden gab.
Die Theatertruppe des Prinzen sollte eine Vorführung geben, und weil er ein Jahr zuvor sein Leibeigenenorchester verkauft hatte – er fand, es sei kostspielig genug, einer Theatertruppe Kost und Logis zu bieten –, hatte man das Leibeigenenorchester der Jablonskis angeheuert.
Für die sechzehn männlichen Orchestermitglieder dauerte die Anreise auf das Gut der Olonows zwei Tage. Sie wurden im Bedienstetenquartier untergebracht und durften sich nach der langen Reise erst einmal eine Nacht ausruhen. Am folgenden Morgen wurden sie in den Ballsaal bestellt, um die Stücke zu proben, die Galina Maksimowna ausgewählt hatte. Sobald Antonina die ersten Klänge hörte, eilte sie in den Saal.
Die Männer trugen gegürtete Tuniken, lange Hosen und Filzstiefel, wie sie typisch für das Landvolk waren. Immer wieder glitt Antoninas Blick zu einem Geiger, dem jüngsten Mitglied der Truppe. Er schien ungefähr in ihrem Alter zu sein. Er hatte ein schmales, fein geschnittenes Gesicht und lockiges dunkelblondes Haar. Von weitem – sie saß am anderen Ende des großen Saals – konnte sie seine Augenfarbe nicht erkennen, sah jedoch, dass sich seine Augenbrauen an den Außenseiten nach unten bogen, was ihm einen leicht melancholischen Ausdruck verlieh.
Antonina schob sich an der Wand entlang weiter nach vorn; es wimmelte vor Dienern, die Stühle aufstellten und den Ballsaal mit Bändern und Kerzen und Blumen aus dem Treibhaus schmückten. Sie lehnte gegen eine der glatten runden Säulen, die die himmelhohe Decke stützten. Nun war sie nah genug, um die Augenfarbe des Geigers zu erkennen – Dunkelblau. Er hatte zarte Hände mit langen, schmalen Fingern und einen breiten Mund. Von hier aus sah sie auch die burgunderfarbene Prellung, die auf seinem linken Wangenknochen prangte – der Schwellung zufolge war sie offenbar noch frisch.
Er ließ seinen Bogen sinken und blätterte eine Notenseite um. Antonina sah rasch weg, damit er nicht bemerkte, wie sie ihn angestarrt hatte, falls er den Blick heben sollte. Geflissentlich betrachtete sie die kunstvolle Zierleiste über einem der Fenster. Als sie erneut nach vorn sah, spielte er wieder. Seine Augen waren geschlossen, und ein Strahlen lag auf seinem Gesicht, und sie konnte den Schatten seiner Wimpern auf seinen Wangen sehen. Woran er wohl dachte?
Am ersten Abend des Festes, zwischen dem Abendessen und bevor das Orchester zu spielen begann, blickte Antonina in eines der hohen Verandafenster am Ende des Salons. Sie stand allein inmitten des lebhaften Gedränges. Im dunklen Fensterglas konnte sie ihr Spiegelbild sehen, und im Kerzenlicht erkannte sie die flackernden Silhouetten der Gäste, die den Raum hinter ihr bevölkerten. Die Luft war stickig, an beiden Enden des langen Raums prasselte ein Kaminfeuer, und die Parfüms und Pomaden, vermischt mit Schweiß, taten ein Übriges. Es herrschte lautes Stimmengewirr, und da reichlich Champagner floss, wurde zu viel und zu laut gelacht, während man darauf wartete, dass der Tanz eröffnet wurde.
Antonina wurde von einem heftigen Kopfschmerz geplagt, der direkt hinter den Augen saß und von der Hitze, dem Lärm, der Spannung und dem echten französischen Champagner herrührte. Sie hatte ziemlich viel getrunken, doch sie fand das prickelnde Getränk zu süß. Sie bevorzugte den reinen, weichen Geschmack von Wodka. Sie lehnte die Stirn an das kühle Fensterglas und schloss die Augen. Wo Lilja jetzt wohl lebte? In einer feuchtkalten Bauernkate, ähnlich wie der in Kaschra, oder womöglich in einer noch schlimmeren Behausung? Sie dachte an den kleinen Jungen, Liljas Bruder mit seinem nackten Po, seinen knubbeligen Knien und schmutzigen Füßen, und wie er sich an der Schürze seiner Mutter festgeklammert hatte. An seinen schlimmen Husten. Ob er noch lebte?
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