Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
Laudanum auf dem Ankleidetisch. Wenn sie das Laudanum abends zusammen mit einer Beruhigungstablette einnimmt, kann sie schlafen. Aber manchmal bekommt sie davon schreckliche Albträume. Immer wieder läuft Antonina suchend durch ein Dickicht, und scharfe Dornen ritzen ihr die Haut auf. Wenn sie morgens aufwacht, durstig, mit Kopfschmerzen und sandigen Augen, fällt es ihr schwer, klar zu denken. Sie hat ein trockenes Gefühl in Mund und Kehle, das bis zum Nachmittag andauert.
Jetzt steht sie auf und nimmt einige Schlucke Laudanum. Es dauert nicht lange, und sie wird in einen traumähnlichen, verschwommenen Zustand versetzt, aber das Mittel macht sie durstig. Sie trinkt Wein aus der Karaffe, die auch auf dem Ankleidetisch steht. Er fühlt sich weich und warm auf ihrer Zunge an. Sie trinkt jetzt immer früher am Tag Wein, weil sie sich damit ein wenig besser fühlt. Aber immer öfter zittern ihre Hände und Übelkeit überkommt sie, sodass die Abstände zwischen den Gläsern immer kleiner werden. Lilja sagt, die Übelkeit komme davon, dass sie nichts isst, aber Antonina bringt kaum einen Bissen herunter.
Mit der Karaffe in der Hand sitzt sie auf dem Bett, während der Regen an diesem düsteren Mainachmittag gegen das Fenster prasselt. Weder das Laudanum noch der Wein oder der Regen können Konstantins Worte wegwischen. Das Einzige, was sie will, ist, nicht zu denken. Sie zerbricht einige der grässlichen weißen Beruhigungstabletten und spült sie mit einem weiteren vollen Weinglas hinunter, dann nimmt sie noch ein paar Schlucke Laudanum.
Sie liegt jetzt auf dem Rücken an der Bettkante und sehnt sich verzweifelt nach Frieden. Dann spürt sie, wie warme Flügel über sie hinwegstreichen. Was für eine sanfte, fedrige Befreiung – und sie ist zutiefst erleichtert. Nicht mehr lange und der altbekannte, sorglose Schlaf wird sich einstellen. Der ihr so vertraut war, als ihr Sohn noch in seinem Zimmer neben dem ihren lag. Sie nimmt einen tiefen Atemzug und lädt die Flügel dazu ein, sie mit sich fortzutragen.
Doch im nächsten Moment bemächtigt sich ihrer ein merkwürdiges beunruhigendes Gefühl, und sie kann kaum atmen. Ein Vogel, riesig und beängstigend, sitzt auf ihrer Brust. Sie kann ihre Augen nicht öffnen und wird es auch nicht tun, weil sie Angst davor hat, tatsächlich einen scharfen Schnabel zu erblicken. Sie sagt sich, es ist ein Traum, ein Albtraum, und versucht sich zu bewegen, ist jedoch unfähig dazu. Sie hört ein kurzes, schnelles Schnaufen, als beugte sich der Vogel tief über ihr Gesicht.
Aber vielleicht ist es ja nur ihr eigenes Schnaufen.
Sie sagt sich, dass es unmöglich ein Vogel sein kann, dass sie sich das nur einbildet. Das kommt von den Pillen, dem Laudanum, dem Wein. Während sie überlegt, wie viele zerstoßene Pillen und wie viel Laudanum sie eingenommen hat, steigt langsam ein blubberndes Gefühl, vielleicht eine gedämpfte Art Panik in ihr auf. Was, wenn sie stirbt?
Sie versucht, die Lider aufzuschlagen; sie hat jetzt keine Angst mehr vor dem Vogel, der ja doch nur ein Hirngespinst ist, sondern vor dem Tod. Was, wenn sie stirbt, und morgen oder übermorgen oder nächste Woche kommt Mischa nach Angelkow zurück? Wird man ihm dann sagen, seine Mutter sei so schwach gewesen, dass sie sich das Leben genommen hat? Sie kann es nicht ertragen, was er dann von ihr denken müsste, dass er nun mutterlos ist, weil sie so erbärmlich schwach und voller Selbstmitleid war. Sie will sich bewegen, bringt ihren ganzen Willen auf, um das Gefühl der Schwere von ihren Gliedern abzuschütteln. Ein paar leise, unartikulierte Laute dringen aus ihrer Kehle. Schließlich schlägt sie die Augen auf und rollt von der Bettkante herunter. Sie spürt, wie sie langsam und anmutig in warmem Wasser hinabtrudelt, und die köstliche Versuchung, dort zu bleiben und einfach weiterzutreiben, lässt sie die Augen abermals schließen. Sie kämpft gegen die Benommenheit an und schafft es irgendwie – nach einer Minute oder zehn Minuten? –, sich auf alle viere zu stemmen. Dann steckt sie die Finger in den Hals und erbricht alles, den Wein und die Pillen und das Laudanum. Ihr Erbrochenes sieht aus wie eine blutige Lache auf dem hellen Teppich; kein Stückchen feste Nahrung ist dabei.
Zitternd fällt sie auf die Seite. Ihre Lippen sind burgunderrot gefärbt. Sie versucht, darüber zu lecken, aber ihre Zunge ist wie ausgedörrt.
Sie hört, wie an ihre verschlossene Tür geklopft wird, und dann Liljas leise Stimme:
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