Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
kein Zeuge gemeldet, der ein unbekanntes Kind gesehen oder etwas Verdächtiges bemerkt hat.
» Ich fürchte, mehr können wir nicht tun « , sagt Grischa abschließend und streckt die Hand aus, als wollte er sie berühren, hält jedoch mitten in der Bewegung inne. Ein erschrockener, ungläubiger Ausdruck erscheint auf ihrem Gesicht, als hätte sie soeben eine niederschmetternde Nachricht erhalten.
» Es muss doch etwas geben, was wir tun können. Es muss, Grischa. Wir können doch nicht einfach aufhören, nach ihm zu suchen. Als … als wäre er … « Sie ist unfähig, den begonnenen Satz zu beenden.
» Ich verstehe Sie « , sagt er sanft. » Aber wir müssen uns jetzt wieder um das Gut kümmern, es ist so viel Arbeit liegen geblieben. Wollen Sie, dass ich – ohne die anderen – die Suche fortsetze? «
» Ja. Lass die anderen an ihre Arbeit zurückkehren, aber bitte, such du weiter « , sagt sie. Sie dreht sich um und verlässt den Musiksalon, um in ihr Zimmer zu gehen, wo sie sich aufs Bett setzt. Eine tiefe Dunkelheit umgibt sie, sodass sie zum ersten Mal daran denkt, sich das Leben zu nehmen. Sie kann den Gedanken, dass ihr Sohn leiden muss, nicht ertragen.
Es gibt nur einen Trost: Es wurde keine Leiche gefunden. Solange dies nicht der Fall ist, ist sie nicht bereit, an den Tod ihres Sohnes zu glauben.
Die Stille im Haus erstickt sie. Die Dienstboten schleichen umher, als wären ihre Füße mit Baumwolle umwickelt, und senken ihre Stimmen zu einem Flüstern. Der Frühling – inzwischen ist es Mai – war außergewöhnlich nass. Die Bäume explodieren in ihrer Blütenpracht, und doch liegt ein mit Feuchtigkeit gesättigter Geruch in der Luft. Vielleicht ist sie ja im Begriff unterzugehen. Ja, sie hat tatsächlich das Gefühl, unter Wasser zu sein, kann nicht atmen. Antonina ist froh, dass der Himmel bedeckt ist, strahlenden Sonnenschein könnte sie jetzt nicht ertragen.
Es gibt keine Worte, die Sinn machen, keine Bibelpassage, die sie zu trösten vermag. Lilja betet unaufhörlich und versucht Antonina dazu zu bringen, es ihr gleichzutun.
» Du musst beten, Tosja. Komm und knie dich zu mir « , sagte sie Tag für Tag. » Der liebe Gott wird dir helfen zu verstehen, warum er diesen Weg für dich vorgesehen hat. Er wird dich trösten. «
Antonina schüttelt den Kopf. Sie hat gebetet. Aber es hat ihr weder Trost gebracht noch Michail nach Hause geführt. Als Pater Kirill sie besuchen will, weigert sie sich, ihn zu empfangen.
Jeden Morgen breitet sie die rotweinbefleckten Noten von Glinka auf dem Notenhalter des Klaviers aus – jene, die Walentin, der Geiger aus dem Leibeigenenorchester, ihr geschenkt hat; mittlerweile ist es ihr zu einem festen Ritual geworden. Sie kennt alle Stücke auswendig, aber es tröstet sie, wenn sie beim Spielen die Widmung auf der ersten Seite sieht.
Wenn sie ihr Repertoire gespielt hat, wandert sie durchs Haus: durch den Salon, das Esszimmer, den Wintergarten, die Bibliothek, das Arbeitszimmer, den Billardraum, die Waffenkammer. Sie streicht über all die hübschen, bedeutungslosen Gegenstände: die Glasornamente, die gerahmten Scherenschnitte, die Buchrücken in den Regalen, die Blütenblätter der Treibhausblumen, die auf Hochglanz polierten Marmor- und Holzoberflächen der Tische.
» Sie haben keine Leiche gefunden « , sagt sie ein gutes Dutzendmal am Tag im Flüsterton. Sie berührt den braun werdenden Wedel einer Zierpalme und wispert: » Keine Leiche « , dann die klobigen Ecken des gläsernen Tintenfasses und wiederholt die Worte. Die Bediensteten fühlen sich in ihrer Anwesenheit unbehaglich; wenn sie einen Raum betritt, verbeugen sie sich und gehen rückwärts hinaus.
Aber sie kann nicht anders, als immerzu diese zwei Worte zu wiederholen. Sie sind ihr Trost. Die Leiche ihres Sohnes wurde nicht gefunden. Also besteht die Chance, dass er noch lebt. Und deshalb wird sie die Hoffnung nicht aufgeben.
Vielleicht ist Michail noch am Leben. Sie wird die Suche nicht aufgeben.
Den Tag kann sie nur mithilfe von Wein oder Wodka überstehen, aber ebenso wie ihr Kopf schmerzt auch ihr Körper. Es ist, als lägen ihre Nerven bloß. Das Laudanum, das sie mit Wein oder Wodka einnimmt, bevor Lilja sie abends ins Bett bringt, lässt sie wenigstens für ein paar Stunden in einen betäubungsähnlichen Schlaf versinken.
Mit einem mulmigen Gefühl folgt Antonina Dr. Molow in Konstantins Schlafzimmer.
» Auch wenn er noch nicht ganz wieder er selbst ist, Gräfin, wird dies
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