Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
liegt.
» Tosja « , sagt Lilja, » lass mich hinausgehen und ihn fragen, was er möchte. Warte du hier. «
» Nein, ich muss selbst gehen. Vielleicht ist er einer der Entführer mit einer neuen Lösegeldforderung. « Doch selbst als sie diese Worte ausspricht, ist kein Funken Hoffnung mehr in ihr. Sie hat die Hoffnung verloren. Sie wartet einfach nur noch darauf, dass ein weiterer Tag verstreicht.
An manchen Tagen trinkt sie jetzt Tee mit Zitrone und isst ein Stück Brot mit Marmelade. Meistens liegt sie seitlich auf dem Bett, mit dem Gesicht zum Fenster, und beobachtet, wie die Bäume ausschlagen. Hin und wieder setzt sie sich auf, um an dem Glas zu nippen, das auf ihrem Nachttisch steht. Sie ist des schweren Rotweins überdrüssig geworden und trinkt jetzt nur noch Wodka. Auch wenn Konstantin die Schnapsbrennerei letztes Jahr geschlossen hat, da sie keinen Profit mehr abwarf, gibt es noch ein Lager voller Flaschen seiner Hausmarke, die darauf warten, verkauft zu werden. Auch im Keller des Gutshauses lagert noch ein großer Vorrat. Der Wodka hat einen klaren, reinen Geschmack.
Manchmal setzt sich eine Nachtigall auf einen Zweig vor dem Fenster und pfeift ihr Lied.
» Antonina Leonidowna « , sagt Lilja, als spräche sie mit einem Kind, das lange Zeit krank gewesen ist, » du darfst dich nicht überanstrengen. Aber wenn du wirklich darauf bestehst hinunterzugehen, lass mich dir helfen, dich ordentlich anzuziehen. Die Dienstboten sollten dich nicht in diesem … so sehen. Also lass mich dich ankleiden und … dein Haar machen. «
» Nein, das dauert zu lange « , erwidert Antonina, doch als sie aufsteht, muss sie für einen Moment die Augen schließen und sich am Bett festhalten.
Lilja legt ihr den Arm um den Rücken, spürt ihre Rippen. » Du musst ein warmes Kleid anziehen. Und den Kopf bedecken. «
Antonina geht, gefolgt von Lilja, über den sonnigen Hof zu der Stelle, wo Grischa mit einem Fremden spricht. Noch ehe sie bei ihnen ist, ruft sie aufgeregt nach Grischa, der sich erschrocken zu ihr umdreht.
Sein Blick streift ihren Samthut, den sie tief in die Stirn gezogen hat. Den Kragen ihres weichen Wollmantels hat sie hochgestellt. Es ist ein warmer Tag, aber sie ist angezogen wie im Winter. Ihr Gesicht hat eine ungesunde Blässe. Er hat sie seit zehn Tagen nicht mehr gesehen; jedes Mal, wenn er ihr ausrichten ließ, er müsse mit ihr ein paar Dinge besprechen, hat man ihm gesagt, sie müsse sich ausruhen und wolle nicht gestört werden. Er solle selbst entscheiden.
» Was gibt es, Grischa? « , sagt sie, als sie die beiden Männer erreicht hat. Sie sieht ihn an, dann den anderen Mann. Er ist breitschultrig und hat einen grau melierten Bart. Der Mann nimmt seine Kappe ab und verbeugt sich vor ihr; sein graues Haar steht in fettigen Strähnen von seinem Kopf ab. » Was will er? Was sucht er hier? « Sie sieht wieder Grischa an und versucht den Ausdruck seiner dunklen Augen zu ergründen.
Der Mann hebt den Kopf und starrt sie unverhohlen an.
» Er hat Ihnen eine Nachricht gebracht « , sagt Grischa.
» Eine Nachricht? « , wiederholt Antonina, als sei ihr dieses Wort nicht vertraut.
» Von Ihrem Sohn. Er hat eine Nachricht von Michail. «
Antonina steht reglos da, sagt kein Wort, ohne zu blinzeln. Mit einem Mal wird Grischa bewusst, wie krank sie ist. Er fragt sich, ob sie überhaupt verstanden hat, was er gesagt hat.
» Gnädige Frau? « , sagt er sanft. » Gräfin Mitlowskaja? Haben Sie gehört? Er bringt eine Nachricht von Michail Konstantinowitsch. «
Antonina strafft sich und packt den Arm des Fremden. » Haben Sie ihn? « , sagt sie. » Haben Sie meinen Sohn? «
» Nein, nein, gnädige Frau. Ich bin nur gekommen, um einen Beweis zu bringen. Ich bin in keiner Weise in die Sache verwickelt, Gräfin, sondern einfach nur ein Bote. Wenn ich damit zu tun hätte, würde ich dann das Risiko eingehen und hierherkommen? « Er wirft Grischa einen verstohlenen Blick zu.
» Haben Sie ihn gesehen? « Seit Wochen hat Antonina nicht mehr so laut gesprochen. » Geht es ihm gut? Wo ist er? « Sie wirbelt zu Grischa herum. » Geh mit ihm und finde ihn. Hol meinen Jungen zurück, Grischa. «
» Nun, Lew? « , sagt Grischa scharf. » Hast du uns noch mehr zu sagen? Kannst du uns sagen, wo wir das Kind finden? «
Als der Mann, den Grischa mit Lew angesprochen hat, nichts sagt, ruft Antonina aus: » Hat man Sie geschickt, um noch mehr Geld zu verlangen? Ich kann es Ihnen geben. Kommen Sie mit ins Haus, dann gebe
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